"Alle sieben Minuten eine Hassbotschaft"

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Warum sollte ein vor 70 Jahren begangenes Unrecht nicht auch korrigiert werden? Es ist doch in unserem Interesse, den Konflikt beizulegen.

Wenn die arabische Bevölkerung Israel hasst, dann liegt es auch daran, dass sie kein sauberes Wasser hat. Dass sie buchstäblich Abwasser trinken muss.

Tom Pessah, 44, ist ein israelischer Soziologe und Aktivist, geboren und aufgewachsen in Tel Aviv. Im Jahr 2014 promovierte er an der University of California, Berkeley. Er ist Vorstandsmitglied der israelischen NGO "Zochrot" ("Erinnerung" auf Hebräisch). Zochrot sieht die Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge als unerlässliche Form der Entschädigung, die aus der Vertreibung folgt. Pessah war auf Einladung des Wiener Instituts für Internationalen Dialog und Zusammenarbeit (vidc) in Wien.

DIE FURCHE: In Ihrer Dissertation schreiben Sie über die ethnischen Säuberungen in Siedlerkolonialgesellschaften, wie den USA oder Australien. Sie sehen hier Parallelen zur Entstehung Israels?

Tom Pessah: Ja, zwischen 400 und 500 Dörfer wurden zerstört und 770.000 Einwohner vertrieben. Das Land wurde von Israelis übernommen. Aber Zochrot schätzt, dass heute 80 Prozent des Landes, wo früher Häuser standen, unbewohnt sind. Es sind Nationalparks, aufgeforstete Wälder oder Landwirtschaftsflächen. Deswegen wäre die Rückgabe unkompliziert.

DIE FURCHE: Wurde die Enteignung legalisiert?

Pessah: Ja, es gab das Abwesenheitsgesetz, das es erlaubte, herrenloses Land zu übernehmen. Es wurde an Kibbuzim und verschiedene Institutionen verteilt und dann als deren Eigentum legalisiert.

DIE FURCHE: Die Palästinenser fordern das Recht auf Rückkehr. Mit allen Nachkommen wären das mehrere Millionen. Warum sollte eine israelische Regierung das akzeptieren?

Pessah: Tatsächlich hat keine Regierung seit 1948 eine Rückkehr in Betracht gezogen. Auch das Camp David Abkommen von 1993 klammert diese Frage aus. Aber Zochrot unterstützt das Recht auf Rückkehr als grundlegendes Menschenrecht. Das ist in Artikel 13 (2) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen verankert. Das Recht erstreckt sich auch auf Angehörige. Wenn jemand heiratet oder Kinder bekommt, muss er sich also nicht scheiden lassen, um das Rückkehrrecht in Anspruch zu nehmen. Die Regierung will davon nichts wissen. Dabei beruht das Konzept des israelischen Staates auf dem Recht auf Rückkehr nach 2000 Jahren. Wenn jemand als Jude ohne jede Verbindung zu Israel, sagen wir aus New York, einwandern will, dann bekommt er von der Regierung einen finanziellen Zuschuss, den ihm das Rückkehrgesetz zuspricht. Es wird also ein vor 2000 Jahren von den Römern begangenes Unrecht korrigiert. Das ist geltendes Recht in Israel. Warum sollte ein vor 70 Jahren begangenes Unrecht nicht auch korrigiert werden? Es ist doch in unserem Interesse, den Konflikt beizulegen. Die Menschen leben segregiert, haben Angst und Paranoia. Jedes palästinensische Baby wird als potentielle Bedrohung betrachtet. Wir müssen endlich aufhören, das Zusammenleben mit den Palästinensern aus der Sicherheitsperspektive zu sehen. Man sollte gleichberechtigt leben und nicht die eine Gruppe auf Kosten der anderen. Wir wissen auch gar nicht, wie viele Menschen tatsächlich zurückkehren wollen.

DIE FURCHE: Wenn diese Babys dann in die Schule gehen, wird ihnen der Hass auf die Juden eingetrichtert. Ist das kein Problem?

Pessah: Das ist gegenseitig. Israelische Kinder erfahren in der Schule nichts über die Geschichte der Palästinenser. Die meisten wissen nichts von der Nakba, der Katastrophe der Vertreibung. Seit 2011 gibt es ein Gesetz, das staatliche Zuschüsse an Organisationen verbietet, die an die Nakba erinnern. Ich denke, wenn die arabische Bevölkerung Israel hasst, dann liegt es daran, dass sie kein sauberes Wasser hat und buchstäblich Abwasser trinken muss. Es gibt keine ausreichende Gesundheitsversorgung. Wenn jemand Krebs hat, muss er sterben oder mit Israel kollaborieren. Die Sicherheitskräfte lassen die meisten nicht durch. In Gaza sind viele aus diesem Grund gestorben. Manche leben dort in kaputten oder halbfertigen Häusern, weil sie kein Baumaterial bekommen. Dort regnet es hinein. 70 Prozent der Bevölkerung im Gaza-Streifen kommen ursprünglich aus dem Zentrum oder dem Süden Israels und wurden vor 70 Jahren vertrieben. Sie sind über die Lebensbedingungen unglücklich. In den sozialen Medien wird durchschnittlich alle sieben Minuten eine Hassbotschaft gegen die Palästinenser abgesetzt. Aber wenn wir uns ansehen, wie sich die Beziehungen zwischen Israel und Deutschland, das sechs Millionen Juden ermorden ließ, entwickelt haben, dann gibt es Anlass zur Hoffnung. Ich sehe nicht, warum schlussendlich nicht auch Palästinenser und Juden ohne Hass leben sollten.

DIE FURCHE: Viele sind ja heute skeptisch, was die Zweistaatenlösung betrifft. Was halten Sie davon, als Konzept und was die Chancen auf Verwirklichung betrifft?

Pessah: Es sollte um Rechte gehen und nicht um die Anzahl von Staaten. Das Konzept wurde in den letzten zwei Jahrzehnten von den politischen Eliten gekapert. Wir haben jetzt ein "palästinensisches Parlament" und eine "Autonomieregierung". Es wird mit politischen Tricks für die Versöhnung gearbeitet. Irgendwann wird man wieder ein Abkommen unterschreiben. Aber was ist mit der Bevölkerung? Die Diskussion muss mit dem Rückkehrrecht einerseits und der Anerkennung des Staates Israel andererseits beginnen. Wir wollen auch wirtschaftliche und kulturelle Rechte, Freiheit für religiöse Praktiken. Es kann eine Rückkehr und trotzdem zwei Staaten geben. Aber uns Bürger fragt ja niemand. Die Regierung prolongiert den Status quo. Wir müssen einfach Druck aufbauen, bis es einen Kurswechsel gibt.

DIE FURCHE: Waren die Reaktionen auf die Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem überzogen?

Pessah: Ich denke nicht, dass es viele Reaktionen gegeben hat. Die Medien haben es so dargestellt, als würden Palästinenser in Gaza einen Aufstand machen, weil Trump die Botschaft verlegt hat. In Wahrheit war das ein Marsch für das Recht auf Rückkehr. Außerdem erinnern sie daran, wie schrecklich die Zustände in Gaza sind. Durch Zufall ist das mit der Botschaftsverlegung zusammengefallen. Die ist ein kleines Unrecht verglichen mit den Lebensbedingungen im Gaza-Streifen, der im Grunde ein großes Gefängnis ist. Das ist unerträglich und wir sollten auf diese Leute hören.

DIE FURCHE: Ist von Trump und Netanjahu zu erwarten, dass sie den Konflikt einer Lösung näher bringen?

Pessah: Wir sollten da keine Illusionen aufbauen. Sie handeln entsprechend dem Druck, der auf sie ausgeübt wird. In den USA sind das die Evangelikalen. In Israel die Industrie. Die hat einen sicheren Markt, weil die Palästinenser keine eigene Industrie aufbauen dürfen. Dazu kommt die Rüstungsindustrie, für die ein Konflikt immer gut ist. Sie testet immer wieder Waffen in Gaza.

DIE FURCHE: Sie meinen also, der berühmte militärisch-industrielle Komplex verhindere eine Lösung?

Pessah: Ich kann nicht sagen in welchem Ausmaß, aber er ist definitiv ein Faktor. Die USA aber auch Deutschland und Großbritannien verkaufen Waffen an Israel. Das ist ein Anreiz, Gewalt zu gebrauchen, statt eine politische Lösung zu suchen.

DIE FURCHE: Wieviel Kontakt gibt es zwischen jüdischen und arabischen Israelis außerhalb von Städten wie Haifa?

Pessah: Wenig. Israel ist ein äußerst segregiertes Land. Das ist bewusste Politik. In manchen Sektoren, etwa im Gesundheitswesen, gibt es mehr Kontakt. Da kann man als Israeli schon von einer palästinensischen Krankenschwester oder einem arabischen Arzt behandelt werden. Aber es gibt eigene Zulassungskomitees, die dafür sorgen, dass die Bevölkerung getrennt bleibt. Deswegen rückt die israelische Jugend immer mehr nach rechts. Sie hat viel weniger Kontakt zu Palästinensern als noch die Elterngeneration. Seit der zweiten Intifada ist das so. Ich persönlich suche den Kontakt.

DIE FURCHE: Wie viele Menschen in Israel denken wie Sie?

Pessah: Eindeutig keine Mehrheit. Aber ich war überrascht zu sehen, dass eine Umfrage kürzlich 16,2 Prozent Zustimmung zu einer kompletten Rückkehr der Vertriebenen gezeigt hat. Wenn es eine öffentliche Debatte darüber gäbe: Wer weiß, was das bewirkt.

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