"Wir brauchen gemeinsame Freunde"

Werbung
Werbung
Werbung

"Ich bin gegen Toleranz, will weder Juden, noch Moslems, noch mich selbst tolerieren. Ich will jeden annehmen," kennzeichnet Elias Chacour, Träger internationaler Friedenspreise, seine Tätigkeit als Brückenbauer zwischen jungen Moslems, Christen und Juden in Israel.

die furche: Sie sind Palästinenser und israelischer Staatsbürger. Sie leben in Galiläa: Wie sehen Sie die derzeitige Situation in Ihrer Heimat?

elias chacour: In den letzte drei Jahren ist sie zu einem Alptraum geworden. Die Hoffnung wurde von beiden Seiten ermordet. Alle leben in Angst. Die Mächtigen, die Israelis, und die Machtlosen, die Palästinenser, sie alle glauben nicht mehr an Aug für Aug, Zahn für Zahn. Beide wollen alle Zähne für einen, beide Augen für eines. Ich habe neun Kriege zwischen Israel und den arabischen Ländern, den Palästinensern überlebt. Aber dieser ist der fürchterlichste von allen. Ihn kennzeichnet der gänzliche Mangel an Sicherheit für alle - Juden, Palästinenser, egal, wo sie leben.

die furche: Wie verhält sich unter diesen Umständen der einfache Bürger?

chacour: Er nimmt es hin. Ich hoffe allerdings, daß aufgrund der unzähligen Beerdigungen auf beiden Seiten ein Denkprozeß ausgelöst wird, man sich fragt: Ist das eine Lösung? Beide Seiten können von sich aus keine Lösung erzwingen. Sie müssen verhandeln. Es geht um das Teilen des Landes, die Beendigung der Okkupation, der Siedlungspolitik auf Seiten der Israelis. Und von Seiten der Palästinenser ist es an der Zeit, jede Art von Gewalttätigkeit einzustellen. Allerdings werden die Anschläge nur aufhören, wenn die Palästinenser irgendwie Hoffnung schöpfen können.

die furche: Was gäbe ihnen Hoffnung?

chacour: Zumindest, dass sie eines Tages nicht mehr unter Fremdherrschaft leben werden. Und: Israel muss aufhören mit der Besiedelung.

die furche: Sehen Sie Anzeichen dafür, dass solch ein Prozess in Gang kommt?

chacour: Ich bin kein Prophet, sondern ein einfacher Bürger, ein Palästinenser, der die Palästinenser liebt und deren Ängste kennt, und der als israelischer Bürger Freundschaft und Verständnis für die Wünsche der Israelis empfindet. Mein Eindruck ist: Wenn wir uns nicht einhängen, werden wir nebeneinander hängen. Diese verzweifelte Perspektive sollte Anlass sein, Hoffnung zu mobilisieren.

die furche: Trifft Sie das nicht besonders, da Sie sich selbst ja seit Jahrzehnten der Friedensarbeit verschrieben haben?

chacour: Ob ich Friedensarbeit geleistet habe, kann ich nicht sagen. Aber das zentrale Anliegen meines ganzen Leben war es, die zerstörte Würde der Menschen wieder herzustellen. Vor allem habe ich mit meinem Volk mitgelitten und das Leiden der Juden zu verstehen versucht. Ich habe begriffen: Es ist unmöglich, die Würde und das Selbstwertgefühl wieder herzustellen, solange man auf beiden Seiten nicht erkennt: Ich bin einerseits im Recht, andererseits aber auch im Unrecht. Wenn dieses mein Bemühen zum Frieden beigetragen hat, dann habe ich tatsächlich Friedensarbeit geleistet. Ich habe Schulen gebaut, Kindergärten, habe Sommer-Camps organisiert. 1982 begann ich mit dem Bau einer kleinen Schule für ein kleines Dorf. Aus diesem Projekt ist weitaus mehr geworden, als wir ursprünglich geplant hatten. Maximal 300 Schüler sollten es sein - und heute sind es 4.500. Sie kommen aus dem ganzen Land, sind Moslems, Christen, Drusen und Juden. Und Gleiches gilt für den Lehrkörper, der 290 Mitglieder umfasst, darunter 100 Doktoren.

Am Anfang war die Sache sogar illegal. Ich hatte keine Baugenehmigung. Dennoch steht dieses Gebäude auch heute noch - ohne Genehmigung. Gott hat uns sehr gesegnet. Das Projekt ist enorm gewachsen.

die furche: Welche Art von Ausbildung wird da vermittelt?

chacour: Es sind technische Schulen. 1.600 Schüler sind 14- bis 19-jährig. 750 weitere verfolgen ein zweijähriges Universitätsstudium. Wir ermöglichen ihnen damit, nach Ende der Ausbildung wirtschaftlich unabhängig zu sein. Finden sie keine Jobs auf dem Arbeitsmarkt, fangen sie einfach etwas neues an. Außerdem haben wir das einzige Fortbildungszentrum für arabische Lehrer. 1.200 kommen da jede Woche für einen Tag. Sie folgen einem Vier-Jahres-Programm. Und schließlich haben wir eine Schule für begabte arabische Schüler. Sie soll die Führungskräfte für morgen ausbilden.

die furche: Gibt es weitere Projekte?

chacour: Im Oktober wird die erste arabisch-christlich-israelische Universität eröffnet. Mir sind alle drei Elemente wichtig.

die furche: Wie finanzieren Sie all das?

chacour: Da gibt es drei Quellen: Die Ortsansässigen stellen sehr großzügig ihre Arbeitskraft zur Verfügung und viele Lieferanten geben uns enorme Rabatte. Dann sind die Einkünfte aus meinen Büchern - drei, die in 28 Sprachen übersetzt wurden. Auch habe ich einige internationale Friedenspreise gewonnen (zuletzt einen japanischen in der Höhe von 300.000 Dollar). Und die dritte Quelle: Unterstützungen von Freunden auf der ganzen Welt. Vor drei Jahren bekam ich eine besonders wertvolle Spende: Eine mir unbekannte Amerikanerin schrieb mir, sie habe nach der Lektüre meiner Bücher beschlossen, ihre gesamten Ersparnisse des letzten Monats mir zu widmen. Im Kuvert fand ich - zehn Dollar. Wir haben ein Klassenzimmer nach dieser Dame benannt.

die furche: Wie ist das Klima in Ihren Schulen jetzt?

chacour: Ich illustriere das am besten am Beispiel von drei Begebenheiten: Als ein jüdischer Terrorist in einer Moschee von Hebron 30 betende Moslems massakriert hat, haben wir das in der Schule als abgrundtiefen Skandal empfunden und Protestbriefe an die israelischen Behörden geschrieben. Darin stand: Solche Handlungen sind ebenso schlimm wie jene im Zweiten Weltkrieg. Einige Wochen später rächte sich ein junge Palästinenser aus Gaza. Er tötete bei einem Selbstmord-Attentat in Tel Aviv 15 Juden und verwundete 86 von ihnen. Sofort schrieben wir Beileidsbriefe. Da kamen meine Studenten und sagten: "Abuna - das heißt Vater - die Briefe reichen nicht. Unser Vorschlag: wir spenden Blut." Man bedenke: Palästinenser, die für verletzte Juden Blut spenden! Ich habe im Spital in Haifa angerufen, sie sollen kommen, wir hätten hier viele Blutspender. Und sie kamen: 15 jüdische Krankenschwestern haben von halb neun Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags gearbeitet, um Blut von 300 Studenten abzunehmen - 300 von 350! An diesem Abend habe ich im israelischen Fernsehen gesagt: "Heute habe ich wieder Hoffnung: Palästinensisches Blut fließt in jüdische Venen, um Leben wieder herzustellen, das getötet hätte werden sollen."

Eine dritte Begebenheit. Sie fand zu Beginn der jetzigen Intifada statt. Einer meiner Studenten, 17 Jahre alt, ist von der Armee aufgegriffen, mit Gewehrkolben traktiert und schließlich erschossen worden. Er war Vorsitzender von drei Studentengruppen: arabischen Israelis, jüdischen Israelis und Palästinensern. Sie nennen sich "Saat für den Frieden". In den USA waren sie mit Hillary Clinton, Senatoren und Kirchenführern zusammengekommen, um über Möglichkeiten für den Frieden zu sprechen. Dieser Junge wurde also umgebracht. Am nächsten Tag mussten wir einfach alle Studenten zusammenrufen, um seines Todes zu gedenken. Es ging auch darum, die enorme Anspannung, die bei uns herrschte, zu bewältigen. Meine jüdischen Lehrer riefen an und fragten, ob sie kommen sollten. "Ja, warum denn nicht," war meine Antwort. "Wenn Ihr jetzt nicht kommt, braucht Ihr überhaupt nicht mehr kommen. Jetzt brauchen wir euch unter uns." Und alle kamen. Und sie weinten mit uns, den 30.000 moslemischen Palästinenser, die zum Begräbnis gekommen waren. Das war vor zwei Jahren. Heute weint niemand mehr. Wir haben keine Tränen mehr.

die furche: Wie kann man von hier aus helfen?

chacour: Nicht in erster Linie finanziell. Wir brauchen etwas anderes: Wir wollen, dass Sie Ihre Freundschaft zu den Juden nicht aufgeben. Aber bitte: Verbinden Sie damit nicht automatisch eine Feinschaft mit den Palästinensern! Sollten Sie die Palästinenser und ihr Leiden kennengelernt, ihr Recht auf ein eigenes Land, eine Heimat begriffen, ihre Gastfreundschaft erlebt und den Entschluss gefasst haben, mit uns zu sympathisieren, sind wir dafür dankbar. Sollten Sie aber unsere Seite ergreifen und sich gegen unsere jüdischen Brüder und Schwestern wenden, wollen wir Ihre Freundschaft nicht. Denn wir wollen keine Feindschaften mehr. Wer nur für eine der beiden Seiten ist, bringt keinen Frieden. Was wir brauchen, sind gemeinsame Freunde. Sollten Sie so jemand sein, möge Gott Sie segnen.

Das Gespräch führte Christof Gaspari

Zur Person: Ein Don Bosco für Galiläa

Elias Chacour wurde 1939 in Ba'ram geboren. 1947 wurde die Familie von israelischen Soldaten aus dem nordwestlich vom See Genezareth gelegenen Dorf vertrieben, ihr Haus zerstört. Von da an lebten die Chacours als Flüchtlinge. Der von der Bergpredigt geprägte Glaube der Eltern verhinderte, dass dieses Schicksal im Heranwachsenden zur Quelle des Hasses wurde. Nach der Schule besuchte Chacour das Priesterseminar, studierte einige Jahre in Paris und erlangte als erster Christ an der Hebräischen Universität in Jerusalem das Doktorat. 1965 wurde er zum Priester der mit Rom unierten griechisch-katholischen (melkitischen) Kirche geweiht und zum Pfarrer in Ibillin bestellt. Für die Jugend muss etwas geschehen, war sofort sein großes Anliegen, und so begann er 1982 mit dem Bau einer Schule. In den Jahren seither enorm gewachsen, wurde sie zu einem Zentrum versöhnten Zusammenlebens der Volksgruppen in Israel. Seit 1992 konzentriert sich Chacour auf die Leitung der Schule.

Rev. Abuna Elias Chacour, P.O. Box 102 Ibillin, 30012 Galilee, Israel (E-Mail: echacour@m-e-c.org)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung