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Der Sieger

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Die zwölf Mitternachtsschläge des letzten Junitages 1968 an der Kathedrale von Nötre-Dame verkündeten einen neuen Abschnitt in Frankreichs und Europas Geschichte: Mit einem sensationellen Wahlerfolg, wie ihn noch keine demokratische Partei der Französischen Republik erringen konnte, ging für de Gaulle eine Ära zu Ende — um einer neuen Platz zu machen. Und zur gleichen Zeit hörten innerhalb der europäischen Sechsergemeinschaft Zollschranken auf, Europas Wirtschaft zu hemmen. Eine echte Wirtschaftseinheit von Bordeaux bis zum Bayrischen Wald und von Sizilien bis Ostende war entstanden.

Wird der neue starke Mann Frankreichs, der General, der die Revolution besiegte, dieser Entwicklung Rechnung tragen?

Vieles spricht für ein neues Konzept, das die Franzosen nun im Bereich der Außenpolitik formieren müssen:

• Streik, Revolution und eine Lawine der Lohnkosten, Zusicherungen einer Sozialoffensive haben Frankreich zum wirtschaftlichen „kranken Mann“ Europas gemacht, den Franc an den Rand der Abwertung geführt. Frankreichs Wirtschaft wird also dringender denn je Annäherung an seine EWG-Partner suchen müssen, um zumindest auf dem Währungssektor wieder zu Luft zu kommen.

• Die Rolle der EWG-Partner Frankreichs ist durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten aufgewertet. Das Bestreben der fünf Partner, England in die Gemeinschaft zu lassen, wird massiver gegen Frankreich vorgetragen werden. Zumal der Vorwurf des Generals, England solle erst seine Wirtschaft in Ordnung bringen, sich nun höchstens gegen sich selbst richtet.

• Schon soll de Gaulle in Geheimgesprächen mit dem amerikanischen Botschafter zusammengetroffen sein. Kommt es zu einer Annäherung an den alten NATO-Kurs der Vierten Republik — und damit zu mehr Engagement für die Vereinigung Europas, die die Amerikaner unterstützen?

• Das teure Sozialprogramm wird de Gaulle zur Selbstbescheidung seiner stolzen Force de frappe zwingen. Schon sagt der neue Außenminister Debrė voraus, daß „manche Ziele … sich nur in einem größeren Zeitraum verwirklichen lassen“. Und auch das wird ihn nach Europa führen.

Welchen Preis allerdings zahlt de Gaulle den Russen, die ihn während der Revolutionstage des Mai durch kommunistische Hilfstrupps vom Sturm dei; Studenten gegen den Elysėe-Palast gerettet haben?

Aber de Gaulle hat schon öfter bewiesen, daß er vom Dank im politischen Geschäft nicht allzuviel hält. Sicherlich aber wird es sich der General überlegen, weiterhin zu viele Kontakte zu den unruhigen Satelliten zu spinnen — denn er hat jetzt genügend Sorgen im eigenen Haus:

Auch kleine Gruppen werden der künftigen Fünften Republik (oder ist es schon die sechste?) das Leben sauer machen. Die Lösung der Wirtschafts-, Finanz- und Arbeitsmarktkrise wird breiteste Unterstützung in Frankreich, Europa und der übrigen westlichen Welt benötigen; und man erwartet jetzt überall die Initiative des Generals an der Europafront.

Und schließlich sollte der Siebenundsiebzigjährige nicht vergessen, daß er auch einen Nachfolger braucht. Jetzt dringender denn je.

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