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Die Sieger sind uneinig

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Am 24. August 1954 erschoß sich der brasilianische Präsident Dr. Ge- tutWVafd’di. Er’ äft ’als Diktator im Stile Mussolinis begonnen, 1947 die Verfassung seine? „Estado Novo” proklamiert und war dann 1950 in freien Wahlen mit 45 Prozent der Stimmen legal zum Bundespräsidenten gewählt worden. Sein Selbstmord war der Höhepunkt eines politischen Skandals. Mitglieder seiner Leibwache waren in ein Attentat gegen den „Vargas-Feind Nr. 1”, den Journalisten Carlos Lacerda, verwickelt, bei dem dieser nur leicht verletzt, ein ihn begleitender Luftwaffenoffizier aber getötet wurde. In seinem Testament machte Vargas die „internationalen Finanzkräfte”— die er vor allem auf dem Erdölsektor nicht ins Land gelassen hatte — für seinen Selbstmord verantwortlich und setzte seinen jungen Freund Jango Goulart als „politischen Erben” ein.

Die Rechte kommt zum Zug

Die Ereignisse des letzten Jahr- rehnts lassen sich als die Auseinan dersetzung zwischen den „Vargas- Erben” — der Linken und der Mitte — und den „Vargas-Feindefe” — -der Rechten — auffassen. Jango Goulart, Chef der Vargasschen Arbeiterpartei,’wurde zweimal zum Vizepräsidenten gewählt — zunächst neben dem Präsidenten Dr. Juscelino Kubitschek, dessen bürgerliche Zentrumspartei sich willkürlich „sozialdemokratisch” nennt —, dann neben dem Präsidenten Janio Quadros. Als dieser aus ungeklärten Motiven, aber — wie Vargas — unter Hinweis auf „internationale Kräfte” auf sein Amt verzichtete, wollten die „Vargas-Feinde” Goulart nicht an die Macht lassen, bis die Offiziere zu ihm umschwenkten, freilich nur so lange, bis er mit den Unteroffizieren gegen ihre Vorgesetzten konspirierte. Nunmehr setzten sie den Marschall Castello Branco auf den Präsidentensessel. Damit ist die Rechte zum ersten Male seit Jahrzehnten an die Macht gekommen. Ihr Wortführer war derselbe Carlos Lacerda, der vordem gegen Vargas zu Felde gezogen war.

Nach MacCarthys Muster

Als Repräsentant der konservativen Partei „UDN” und zur Zeit Gouverneur des Staates Guanabara (Rio de Janeiro) rechnete er damit, im Oktober 1965 zum brasilianischen Bundespräsidenten gewählt zu werden. Aber die eigene Partei und vor allem das Offizierskorps sind in dieser Frage gespalten, weil der fanatische Lacerda, der in seiner Jugend Kommunist gewesen war, einen an MacCarthy erinnernden extremen Antikommunismus proklamiert.

Der neue Präsident Marschall Castello Branco hat zwar 162 führenden Politikern, Gewerkschaftsführern und Intellektuellen, u. a. den drei Expräsidenten Janio Quadros, Juscelino Kubitschek und Jango Goulart, in einer revolutionären „Reinigungsaktion”, die vorgibt, Kommunismus und Korruption auszumerzen, die politischen Rechte auf 10 Jahre entzogen. Eine große Zahl von „Linken” sitzt in Gefängnissen oder auf Gefängnisschif- fen, die an der Reede von Rio de Janeiro zu sehen sind. Alle Lehrer müssen sich in Fragebogen zum Antikommunismus bekennen. Aber Lacerda, der die „harte Linie” der Revolution verfolgt, sieht in der „Säuberungsaktion” nur Stück werk, weil zwar die Führer, aber nicht die Gefolgschaft der Linken, vor allem die unter Vargas errichtete neue Mittelstandsbürokratie, politisch entrechtet werden. So tritt er in immer stärkeren Gegensatz zu Castello Branco, der möglichst schnell von der revolutionären Diktatur zu einer sauberen Demokratie gelangen will.

Der Cruzeiro rollt

Die neue Regierung kämpft mit großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, wenn auch Washington Hilfe verspricht. Im Vorjahr stiegen die Preise in Rio de Janeiro um 81 Prozent, in den ersten sechs Monaten des Jahres 1964 um weitere 38 Prozent. Fisch und Zucker kosten das Doppelte, Fleisch 57 Prozent mehr als im Vorjahr. Obwohl die Mindestlöhne in Sao Paulo verdoppelt wurden, hinken sie der Teuerung nach. Die — in Brasilien ungewohnte!

Arbeitslosigkeit wächst, ohne daß es eine Arbeitslosenunterstützung gibt. ‘Die Inffirtibn Is’t nicht gebremst. 1964 sollen 500 Milliarden Cruzeiros gedruckt werden, ein Drittel mehr als im Vorjahr. Castello Branco will das Staatsdeflzit durch eine Notsteuer und durch Beamtenentlassungen vermindern, findet aber starken Widerstand. Manche Unternehmer werfen ihm vor, sich mit „gefährlichen Experimenten” statt der Ankurbelung der Wirtschaft zu befassen. Das bezieht sich auf ein Gesetz, nach dem die Analphabeten „probeweise” erst einmal bei den lokalen Wahlen mitstimmen dürfen.

Das „Komplott der drei J”

Vor allem aber hat das Parlament, gegen den aufrichtigen oder fingierten Willen des Präsidenten, mit der Mehrheit der konservativen Partei UDN seine Amtszeit um ein Jahr verlängert, so daß die Wahlen erst

1966 stattfinden sollen. Gleichzeitig ist das Wahlgesetz geändert worden. Nur wenn ein Kandidat über 50 Prozent der Stimmen bekommt, was seit Jahrzehnten nicht der Fall war, gilt er als gewählt. Sonst bestimmt das Parlament das neue Staatsoberhaupt. Alle diese Maßnahmen verfolgen das Ziel, Lacerdas Wahl zu verhindern. So ist es ihm, dem „Vargas-Feind Nr. 1”, gelungen, die drei Präsidenten, die sich „Vargas- Erben” nannten, zu stürzen. (Lacerda sprach von dem „Komplott der drei J”: Janio, Jango und Juscelino.) Aber die Hoffnung Lacerdas, sie zu ersetzen, scheint sich nicht zu erfüllen. Der „legale Weg zur Macht” wird ihm versperrt.

Zehn Jahre nach dem Selbstmord von Vargas haben die ihm feindlichen Kräfte — Konservative und internationales Finanzkapital — zum ersten Male mit der letzten Revolution eine wichtige Schlacht gewonnen. Aber die Sieger sind sich uneinig. Castello Branco sitzt nicht fest im Sattel. Eine Gegenrevolution ist unwahrscheinlich, weil die Linke zerschlagen ist. Aber manche prophezeien die „Ablösung” durch einen anderen General mit der Tendenz einer härteren Militärdiktatur.

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