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JUSCELINO KUBITSCHEK / BAUMEISTER IM URWALD

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Im brasilianischen Urwald wird gegenwärtig ein Experiment Wirklichkeit, das selbst für die in städtebaulichen Dingen so unkonventionellen Südamerikaner ohne Beispiel ist. Mitten auf der ideal liegenden Hochfläche des Staates Goia, am sechzehnten Breitengrad, entsteht die Wunderstadt Bra-silio, in die Regierung und Verwaltung des klassischen Kaffeelandes in wenigen Wochen umziehen werden. Bestimmend für die Wahl war vor allem das gesunde Klima und der Wasserreichtum. Für gläubige Christen ist der Platz allerdings auch religiös motiviert, denn im Jahre 1883 soll der heilige Don Bosco ein Traumgesicht gehabt habent er erblickte „ein Land der Verheißung von unvorstellbarem Reichtum zwischen dem fünfzehnten und zwanzigsten Breitengrad“.

1920 legte man den Grundstein zu Brasilia, in die Regierung und Verwaltung des Präsident Dr. Juscelino Kubitschek de Oliveira die Metropolis, einer Ausstellung gleich, am 21. April 1960 eröffnen. Das paßt ganz zur umschaffenden Art des Mannes, dessen Vater ein tschechischer Schneider aus Pribram war. Er wanderte nach Brasilien aus und heiratete die Elementarschullehrerin Maria de Oliveira. 1902 kam Juscelino in Diamantina zur Welt. Man nennt ihn heute „Schuschelino“, nicht nur weil er populär ist, sondern weil sein schwer aussprechbarer slawischer Name mit einem Buchstaben beginnt, den es im portugiesischen Alphabet nicht gibt. Er wollte Arzt werden und arbeitete nebenbei als Telegraphist. Nach der Promotion praktizierte er in Paris, Wien und Berlin. Zurückgekehrt arbeitete der junge Chirurg als Polizeiarzt, kam aber bald in die Politik und ins Abgeordnetenhaus.

1937 inszenierte Getulio Varga einen Staatsstreich, und Kubitschek fiel die Treppe hinauf. Er wurde Bürgermeister von Belo Horizonte, der Hauptstadt Minas Geraes'. Die Stadt bekam ein neues Gesicht. Kubitschek baute Arbeitersiedlungen und behielt reine Finger. Der blendende Redner und Organisator wurde ein Begriff. 1950 bekam er den Gouverneursposten von Minas Geraes.

Nach dem Selbstmord Vargas' inszenierte Kubitschek einen Feldzug zur Ehrenrettung dieses populärsten Mannes des Landes und empfahl sich dabei als Nachfolger. Als die Sozialdemokraten, die mit den namensgleichen Parteien Europas fast nichts verbindet, und die Arbeiterpartei Vargas' diesen schlanken, stets korrekt gekleideten Politiker zu ihrem Kandidaten für die Präsidentschaft aufstellten, schien seine Wahl von vorneherein gesichert. Kubitschek machte das Rennen mit einer Mehrheit von 300.000 Stimmen. Die Opposition vergißt aber nie, daß er sich der kommunistischen Stimmen versichert hatte, indem er verschiedene Zugeständnisse machte. Und die Kommunisten stimmten für ihn. Er wurde aber nicht zuletzt deshalb gewählt, weil er die Parole ausgab, er würde Brasilien „einen Fortschritt von 50 Jahren in der Zeit von fünf Jahren verschaffen“.

Seither ist auch die Hauptstadt sein „Hobby“. Als er den 21. April als unverrückbaren Übersiedlungstermin genannt hatte, erhob sich im Parlament ein Proteststurm. Die erbosten Abgeordneten fanden ein Dutzend Gründe dafür, warum der Umzug illusorisch sei, angefangen von den noch fehlenden Beamtenwohnungen bis zu dem Verdacht, daß der vorläufige Mangel an freien Publikationsmitteln das Regime entdemokratisieren könne. Gewiß, diese Argumente haben etwas für sich, hängt doch über der rationalen Stadt im Urwald bei aller Genialität doch der auch des unglaublichen, ja säkularen Wagnisses. In römischen Kreisen hält man es durchaus für möglich, daß sich unter den „in petto“ ernannten Kardinälen auch der Erzbischof von Brasilia befindet und der Papst seine Ernennung dann am 21. April bekanntgeben wird.

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