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Wer Gelegenheit gehaJbt hat, die Staaten der angeblichen Bevölkerungsexplosion zu besuchen, wird manchen diesbezüglichen Angaben der internationalen Organisationen skeptisch gegenüberstehen. Fast in keinem dieser Länder bestehen heute funktionierende statistische Dienste. Der Inder Chandra Sekhar, einer der lautstärksten Vorkämpfer der sogenannten Familienplanung, hat selbst vor nicht allzu langer Zeit bekennen müssen, die indischen Statistiken fußten mehr auf Schätzungen denn auf exakten Studien. Beobachtungen in anderen Ländern wieder lassen erkennen, daß mit dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft auch die bereits bestehenden Gesundheitsdienste weitgehend zusamimengebrochen sind und daß daher die Kindersterblichkeit zugenommen hat. Die Berechnung des zukünftigen Wachstums fußt aber auf Projektionen, die auf der Grundlage der seinerzeitigen europäischen Ziffern entworfen wurden. Zumindest der Kenner muß daher zugeben, daß die „wissenschaftlichen“ Zahlen mit einigem Recht anigezwieifelt werden dürfen.

Man spricht viel von den gewaltigen Hungersnöten, die schon bald die Menschheit heimsuchen werden. Tatsachen jedoch beweisen das genaue Gegenteil. Eine wachsende Zahl asiatischer Staaten macht sich nämlich ernstliche Sorgen darüber, wie sie in den kommenden Jahren ihre Lebensmittelüberschüsse loswerden kann. Das ist nicht nur eine Folge der Entwicklung von „Wunderreis“. Es ist auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß durch bessere landwirtschaftliche Technik die Produktivität weit mehr gehoben wurde, als unsere Neo-Malthusianer dies noch vor fünf Jahren für möglich hielten. Indien, das vor zwei Jahren mit seinem Hungergeschrei die Wellt erfüllte, führt schon jetzt Verhandlungen mit dem Ziel, im Jahre 1971 seine Agrarprodukte zu verkaufen. Natürlich gibt es in Indien immer noch örtlichen Hunger: dieser aber ist nahezu ausschließlich die Folge der Korruption von Regierungsstellen, die Folge der Unfähigkeit einer verkalkten Bürokratie, die von den Europäern alle Laster, aber fast keine Tugenden übernommen hat.

In den angeblich übervölkerten, aber gut verwalteten Ländern Asiens, in Taiwan, Korea und auch in Japan, stellen sich Wirtschaftstreibende die bange Frage, wie es, bei dem gegenwärtigen Fortschritt der Wirtschaft möglich sein wird, in etwa vier bis fünf Jahren die notwendigen Aifoeitskräfte ziu finden. Insbesondere aiuf Taiwan ist es das große Problem der Regierenden, der schnell wachsenden Landwirtschaft, die dort infolge von Spezialisierung und einem ausgezeichneten Marke- tinig-System zu einer wahren Goldgrube geworden ist, die notwendigen Arme zur Verfügung zu stellen. Es ist denn auch keineswegs verwunderlich, daß das sogenannte Familienplanungsinstitut Natäonial- chinas sich nicht so sehr der Verteilung von „Pillen“ widmet, als vielmehr bestrebt ist, jenen Familien zu helfen, die Kinder haben möchten, aus medizinischen Gründen aber bisher umfrudntJbar blieben.

Auch die Pflege der Kinder zu verbessern, ist eine Aufgabe des Instituts. Die besten Wirtschaftssachverständigen Japans wiederum fürchten, daß die derzeit betriebene drastische Geburtenbeschränkung den wirtschaftlichen Fortschritt hemmen weide, sind einmal die kinderreichen Jahrgänge abgestorben oder überaltert.

Alle diese Tatsachen sollten in Europa trotz der zielbewußten und bestens finanzierten Propaganda- feldzüge der Neo-Malthusianer und Pillenfabrdkanten nicht übersehen werden. Wir sind der kinderärmste Erdteil, wir können uns einen weiteren Rückgang kaum mehr leisten. Gewiß sei hier nicht einer Förderung des' Kinderreichituims, ähnlich wie zur Zeit der totalitären Systeme, das Wort geredet. Die Frage nach der Zahl ihrer Kinder geht ausschließlich die Familie, nicht aber die internationalen Institutionen oder die nationalen Behörden etwas an. Die Forderung aber ist berechtigt, daß unsere europäischem Staaten mehr als bisher den Familien Verständnis entgegenbringen und ihnen die Erfüllung ihrer schweren Aufgaben erleichtern mögen. In einer Zeit gewaltiger psychischer Spannungen und in Erwartung der sozialen Probleme, die uns die Dritte Industrielle Revolution bringen wird, brauchen wir die Familie als ruhenden Pül und als ein Element des Friedens in der Gemeinschaft. Daizu sind politische, wirtschaftliche und soziale Maßnahmen notwendig. Um nur einige von ihnen schHagwortartig zu nennen: das Wahlrecht stünde dem

Staatsbürger bereits seilt seiner Geburt zu, es soQliite aber für dhn, während der Dauer seiner Minderjährigkeit, durch den Famlienenhalter ausgeübt werden. Dazu käme: erhöhter Schutz der Jugend vor Raiuschgift- gefahr; famdMenoriientierter Wohnbau. Wichtig wäre auch eine Schulpolitik, die es den Familienerbaltem erlauben müßte, rnilt Kinderlosen konkurrenzfähig zu bleiben. In einer Zeit, in der das Leben eine immer größere Freizügigkeit eiheischt, bedeutet es für Familien mat Kindern im Schulalter eine unerträgliche Belastung — und für die Allgemeinheit einen Schaden —, wenn in Europa jeder unserer überlebten Klein- und Kleinst9täaiten aus Dummheit oder aus nationalem Prestigedenken sein Schulprogramim ohne Rücksicht auf die Nachbarn festlegt. Zahlreiche Familien stehen heute vor dem Dilemma, entweder den FamMenver- band zu zerreißen oder die Kinder an den jeweiligen Arbeitsort des FamiiMenerhaltera, von Schule zu Schule, von Lehrplan ziu Lehrplan zu versetzen und ihnen damit Jahre ihres Lebens zu rauben. Der Autor dieser Zeilen hat selbst die Erfahrung gemacht, welche fast unlösbaren Probleme die Übersiedlung von Kindern über weniger als hundert Kilometer von Deutschland nach Österreich, aus bundesdeutschen in österreichische Schuilen aufwirft.

Statt die landläufige Propaganda unbesehen himziunehmen, wäre es demnach an der Zeit, die Frage der Bevölkerungsexplosion, wie auch das gesamte Problem der Faimdlienpoli- tik, erneut zu überdenkem.

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