Im Sog des Westens

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Nur 20 Prozent der Österreicher befürworten laut jüngster Eurobarometer-Umfrage einen EU-Beitritt Estlands. Schade! Land und Leute haben mehr Zustimmung verdient.

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Nur 20 Prozent der Österreicher befürworten laut jüngster Eurobarometer-Umfrage einen EU-Beitritt Estlands. Schade! Land und Leute haben mehr Zustimmung verdient.

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Schnapsfahrten und Wodkatourismus - auch das ist Osterweiterung. Bloß zwei Stunden per Fähre von Helsinki entfernt ist die estnische Hauptstadt Tallinn idealer Hafen für durstige Finnen. Schon am frühen Vormittag drängeln sie an die Schiffsbar, während das Luftkissenboot über den Finnischen Meerbusen fliegt. So ein Tag will genutzt sein - zuhause kostet es ein Vielfaches. Wenn es abends dann wieder heimwärts geht, werden die Ausflügler all ihrer Gliedmaßen bedürfen, um heil auf die Fähre zu gelangen. "Unsere vierbeinigen Brüder" nennen sie deswegen scherzhaft die ebenfalls keineswegs abstinenten Esten.

Die kleine Republik (knapp eineinhalb Millionen Einwohner bei einer Fläche etwa halb so groß wie Österreich) ist froh über den skandinavischen Nachbarn im Norden und verspricht sich von ihm viel Unterstützung bei den EU-Beitrittsverhandlungen. Esten und Finnen verbinden Ähnlichkeiten in der Sprache, denn Estnisch gehört zur finno-ugrischen Sprachfamilie. Außerdem eint beide die geographische Nähe zu Rußland, die in der Vergangenheit immer wieder zur Bedrohung wurde. Nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit 1991 und dem damit verbundenen Verlust der russischen Absatzmärkte, mußte sich die Wirtschaft vollkommen neu orientieren und da wurde Estland sehr schnell zum bevorzugten Anlageort für finnisches Auslandskapital.

Die Investitionen konzentrieren sich dabei vor allem auf Tallinn. Wen wunderts, daß internationale Finanzanalysten der Hauptstadt eine gleich hohe Kreditwürdigkeit wie dem ganzen restlichen Estland zubilligen. Im silbernen Weltatlas des arabischen Kosmographen al-Idrisi aus dem Jahr 1154 ist die Existenz von Estlands Hauptstadt erstmals schriftlich dokumentiert. "Es hat noch niemand seine Hand auf Tallinn gelegt", läßt Autor Lennart Meri den von al-Idrisi befragten Reisenden in seinem historischen Roman "Silberweiß" über die Stadt sagen. Doch daran hat sich mittlerweile so ziemlich alles geändert: Aus dem Schriftsteller und Filmemacher Meri wurde Estlands Staatspräsident, im September 1996 für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Er steht für eine Politik der vorbehaltlosen Westintegration und vertritt eine liberale Wirtschaftspolitik.

Und die einstmals unberührte Hafenstadt Tallinn ist zum Reisemekka mutiert, das jedes Jahr über eine Million Besucher anlockt. Es heißt zwar, Tallinn hinke, weil ein steiler Weg namens "Langfußstraße" und eine noch steilere Gasse, "Kurzfußstraße" genannt, auf den zentralen Domberg führen; doch in touristischen Belangen hinkt die alte Hansestadt keineswegs den internationalen Standards hinterher. Die Kauflust der Reisebegleiter steckt an. Schalmeientöne aus den auf Mittelalter getrimmten Schenken umwerben den Gast und das saftige Stück Fleisch gerade am Nachbartisch serviert, macht Appetit. Alles in Butter - nicht nur das Steak - hier läßt es sich gut leben.

Das wirkliche Estland Die als Verdauungsspaziergang gedachte Besteigung des Rathausturms schafft ein realistischeres Bild der Verhältnisse. Der steile Aufstieg über die enge Wendeltreppe könnte schon an den wirtschaftlichen Prozeß denken lassen, den Estland gerade vollzieht. Aber erst der Blick von oben über die Stadtmauer hinaus in die grauen Vororte, über das mehr und mehr verwaiste Land zeigt das wirkliche Estland. Dort schafft keine Mittelalteridylle heimelige Atmosphäre. Dort bläst den Esten der kalte Wind der EU-Anforderungen ins Gesicht.

IME ist das Buchstabenkürzel für die in Estland betriebene liberale Wirtschaftsautonomie. "Ime" heißt im Estnischen auch Wunder. Und ein Wirtschaftswunder setzte das Land an die Spitze der postkommunistischen Staaten, brachte die Pole-position im Rennen um den EU-Beitritt ein. Das Wunder ist schwer erkauft: Für die Hälfte der Bevölkerung, die Rentner, Arbeitslosen, einen Großteil der Landarbeiter und Bauern reicht das Einkommen gerade zum Existenzminimum. Die Landwirtschaft wird EU-konform bewußt vernachläßigt. Auf der Busfahrt in den Süden macht der Blick aus dem Fenster die Agrarkrise evident. Alar Laats, Dozent an der Universität in Tartu, fährt jede Woche diese Strecke. Er hat sich an die eintönige Landschaft schon gewöhnt: Wald, Wald und noch mehr Wald; dazwischen verfallene Einzelgehöfte, verlassene Kolchoseställe, versumpfte Wiesen.

"Der Niedergang der estnischen Landwirtschaft hat schon nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Zerstörung der Gutshäuser und der Kollektivierung durch die Sowjets begonnen", erzählt Laats. Heute verschlimmert der Import subventionierter Agrarprodukte aus der EU die Situation. Zwar sinken dadurch die Lebenshaltungskosten, gleichzeitig fehlen aber nötige Investitionen in die Landwirtschaft. Schlechte Bodenqualität (ein Drittel Estlands sind Moore, Sümpfe und Seen) und kurze Wachstumsperioden tragen das übrige zum Verfall dieses traditionellen Wirtschaftszweiges bei. Wald wächst, wo früher Weidevieh graste. Doch auch daraus ist noch kein rechter Gewinn zu machen, denn die holzverarbeitende Industrie fehlt, das Holz muß unverarbeitet und billig nach Finnland und Schweden exportiert werden.

Was ökonomisch schlecht ist, kann ökologisch durchaus ganz gut sein: Im großen und wenig zugänglichen Hinterland bleibt die Natur weitgehend sich selbst überlassen. Der sprichwörtliche Wildreichtum ist zurückgekehrt, die Feuchtbiotope weiten sich aus. In den Dörfern scheint zwar die Zeit stehengeblieben, andererseits warnen die großen Holzstöße an den Hauswänden bereits zu Sommeranfang vor dem nächsten Winter.

Der Bus nähert sich Tartu, vorbei an häßlichen Betonplattenbauten, einem Überbleibsel aus der sowjetischen Ära. Doch weniger die Wohnsilos machen Sorge als viele derer Bewohner. In Estland lebt heute die größte Anzahl russischer Staatsbürger außerhalb Rußlands. Aus dem privilegierten Herrenvolk von einst sind jetzt geduldete Außenseiter geworden. Insgesamt gibt es eine 400.000 Menschen zählende russischsprachige Minderheit. Von diesen haben weniger als die Hälfte die estnische Staatsbürgerschaft. 120.000 besitzen einen russischen Paß. Der Rest, immerhin 100.000, ist staatenlos. Für Andrei Kotov von der russischen Botschaft keineswegs ein normaler Zustand: "Kaum ein Land hat so viele fremde Staatsbürger auf dem eigenen Gebiet." Um Este zu werden, bedarf es eines Sprachtests, die Beantwortung einiger Fragen zur Staatsbürgerkunde und die Ablegung eines Eids auf die estnische Republik. Diese Bedingungen sind für viele Russen zu schwierig. Trotzdem ist der Verbleib im aufstrebenden Estland attraktiver als die Rückkehr in ein unsicheres Rußland, wo es weder Arbeit noch Wohnungen gibt. Manche Esten beunruhigt dieser Zustand, sehen ein Trojanisches Pferd versteckt. Sie fürchten, daß Moskau die Anwesenheit russischer Staatsbürger im Krisenfall als Vorwand für Interventionen nützen könnte.

In Tartu angekommen zündet sich Dozent Laats als erstes eine Zigarette an. Das Rauchverbot während der zweieinhalbstündigen Busfahrt ist ihm noch nie leicht gefallen. Er hofft, daß von der zunehmenden Westorientierung seines Landes auch die Straßenverbindung Tallinn-Tartu profitieren wird, und die holprige Landstraße mit den vielen Baustellen bald nur mehr Vergangenheit ist.

Brüssel oder Moskau?

"Tartu ist eine wundersame mittelalterliche Stadt, in der man zahlreiche lateinsprachige Erinnerungstafeln sieht, und in der Mitte der Stadt auf dem Berg ist ein Park." Dieser Beschreibung Alexander Solschenizyns ist einiges hinzuzufügen, um dem lieblichen Charakter Tartus gerecht zu werden, doch der kurze Bericht des Nobelpreisträgers sagt das Wesentliche. Die Hochschule in Tartu war im 19. Jahrhundert die deutsche Universität der baltischen Provinzen Rußlands. Ein Vorposten westeuropäischen Denkens an der Grenze zum Zarenreich. Deutsche Professoren und Studenten sollten, der Idee von Zar Alexander I. entsprechend, die von Peter dem Großen begonnene Europäisierung Rußlands fortsetzen.

"Brüssel oder Moskau - entweder oder?" sind heute die Alternativen für Estlands lutherischen Erzbischof Jaan Kiivit. "Und da werden wir wohl die EU wählen, obwohl wir nicht ganz glücklich sind damit." Mit ernstem Blick durch die dicke Hornbrille schaut Kiivit seine Gäste an. "Wir sind fünfzig Jahre lang in einer Union gewesen und haben Schreckliches erlebt. Trotzdem, jetzt bin ich ein gezwungener Befürworter der Europäischen Union - weil wir einen großen Nachbarn im Osten haben. Doch Estland gehört geschichtlich, kulturell und konfessionell ganz klar zu Westeuropa. Für uns läuft die Grenze zwischen Ost und West an unserer Ostgrenze." Was ihn an der EU stört? "Die riesengroße Bürokratie! Wer soll das für ein so kleines Land wie Estland bezahlen? Dieser Beitritt stellt an unser Volk so große Anforderungen."

Der Erzbischof, schon in der dritten Generation Pfarrer, entspricht dem typischen Bild eines Esten: Nüchtern, sachlich, trockener Humor, weitgehend frei von Emotionsausbrüchen. Ein Grund dafür soll die lange rationell-protestantische Tradition im überwiegend lutherischen Land sein. Den für Protestanten unüblichen Titel Erzbischof erklärt Kiivit dementsprechend pragmatisch: "Die enge Nachbarschaft zur orthodoxen Kirche bedingt, daß wir einen Erzbischof brauchen. In der orthodoxen Kirche hat jede Stadt einen Bischof, und im gemeinsamen Gespräch ist es dann ganz nützlich, wenn meine Amtsbezeichnung etwas besser klingt." Jetzt lächelt er spitzbübisch, aber schnell ist er wieder bei ernsten Themen: Tiefe Wunden habe die Sowjetzeit in den Seelen der Esten hinterlassen; zu kurz sei die Zeit zum Heilen gewesen.

"Was die Esten vor der Russifizierung gerettet hat, war ihre unglaubliche Sturheit", erklärte vor der Reise Hüri Uibopuu, Estlands Konsul in Österreich. Diese Sturheit wird auch in Zukunft ein großer Nutzen sein, wenn die Esten in der EU ihre Eigenheiten bewahren wollen.

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