Italien

Migrations- und Abschiebepolitik der EU: Offshore-Praxis kein Tabu mehr?

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Migrationszahlen und Bootsunglücke nehmen zu. Die EU-Staaten setzen mehr denn je auf Abschottung. Auch Australiens Offshore-Praxis taugt mittlerweile zum Vorbild.

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Migrationszahlen und Bootsunglücke nehmen zu. Die EU-Staaten setzen mehr denn je auf Abschottung. Auch Australiens Offshore-Praxis taugt mittlerweile zum Vorbild.

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Eine dramatische Rhetorik schallte vergangene Woche aus Rom in Richtung Brüssel: Aufgrund der stark gestiegenen Zahlen von Bootsmigrant(inn)en verkündete die italienische Regierung einen sechsmonatigen Ausnahmezustand. „Das System steht vor dem Kollaps“, erklärte Sebastiano Musumeci, der Minister für Zivilschutz und Meerespolitik, nach einem Osterwochenende, an dem die italienische Küstenwache im Dauereinsatz in Seenot geratene Geflüchtete gerettet hatte.

Gut 31.000 Migrant(inn)en erreichten laut Regierungsangaben seit Jahresbeginn per Boot Italien, knapp viermal so viele wie zum gleichen Zeitpunkt 2022. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der rechtsextremen Fratelli d’Italia hatte im Wahlkampf noch stark auf die Abwehr illegalisierter Migrant(inn)en gesetzt und anschließend den Operationsradius ziviler Seenotrettung eingeschränkt. Der stato di emergenza (Notstand) soll nun die Ankunftsregionen im Süden Italiens, derzeit vor allem die Insel Lampedusa, „entlasten“, hieß es.

Ihn auszurufen war freilich auch ein Signal an die Mitgliedsstaaten, denn was Sizilien für den Rest des Landes ist, ist Italien für die EU. „Hoffentlich versteht Europa, dass wir nicht mehr viel Zeit haben“, kommentierte Musumeci. Die Botschaft ist angekommen, mit erwartbaren Reaktionen: Die Rechte fordert mehr Abschottung, die Linke wirft Meloni und ihrer Regierung ihre migrationsfeindliche Haltung und alarmistische Rhetorik vor. Weniger beachtet in dieser Gemengelage bleibt zweierlei: Zunächst besteht in lokaler Hinsicht tatsächlich Handlungsbedarf. Wer die Zustände auf Lampedusa, dessen Aufnahmelager völlig überfüllt ist, einmal erlebt hat, kann das nur bestätigen. Dabei geht es nicht um die Überfremdungsfantasien der Rechten, sondern um die simple Tatsache, dass ein geflüchteter Mensch einen Ort braucht, um sich von einer lebensgefährlichen Odyssee zu erholen. Das Aufnahmelager auf Lampedusa ist dafür alles andere als geeignet.

Im breiteren Rahmen erlebt die EU in diesem Frühling ein erneutes Beispiel der Dynamik, die ihre Asyl- und Migrationspolitik seit Jahren bestimmt. Deren Kern ist simpel: Steigende Ankunftszahlen Geflüchteter führen entlang der Außengrenzen zu vollen Aufnahmezentren und Warteschlangen. Dieser Effekt verstärkt sich umso mehr, je länger sich die Mitgliedsstaaten nicht auf ein gemeinsames System zur Aufnahme und Verteilung von Asylsuchenden einigen können. Dementsprechend nimmt die politische Rhetorik von Bedrohung und Überfremdung zu und mündet im Ruf nach immer höheren Zäunen und effektiverer Abschottung – und zwar nach Möglichkeit immer weiter vor den tatsächlichen Grenzen Europas.

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