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Das imaginäre Museum
Mit dem Begriff des „imaginären Museums“ verbindet sich der Name Andrė M a 1 r a u x. Nach einem ereignisreichen Leben, nach Revolutionen und Bürgerkriegen, nach Schanghai und Madrid, nach den Kaskaden heroischaktiver Verzweiflung, die stets den Glauben an die Zukunftskonstruktionen der Ideologie überwog, nach allem blieb diesem Mann das Abenteuer der Kunst, das Abenteuer des Erkennens, die Gefährlichkeit der Thesen in diesem Raum.
Von den Barrikaden ist der Weg in das-Smagi : näre ‘Museum nicht so weit. Nicht weiter als von den Spähtruppgängen in die Provinzen des „Oberförsters“, heim in die Bibliothek und Herbarien des Mauretaniers ...
Wir brauchen jedoch gar nicht Malraux gelesen zu haben, um der Faszination des imaginären Museums zu erliegen. Jeder der vielen Sammler von Kunstkarten erspürt früher oder später ähnliche Weiten, ähnliche Tiefen. Dieser Blick-
punkt, dieser geistige Standort liegt uns heute näher denn je. Das imaginäre Museum ist ein Begriff unserer Zeit — früher wäre es nicht denkbar gewesen. Das vergangene Jahrhundert, in dem die schöpferische Unschuld eines selbstverständlichen Stilwillens gegen die Fragwürdigkeit des Historismus in jeder Beziehung eingetauscht wurde, war Vorbereitung, Anfang und Durchgang. Wir sollten jedenfalls den Ringstraßen-Eklektizismus nicht so achtlos verurteilen. Wahrscheinlich interpjetieren wir heute die Etrusker und vermutlich auch die Höhlenmalerei nicht ganz richtig. Doch das ist erst ein Problem zweiter Ordnung.
Zunächst die Grundtatsachen: wir können uns — technisch, aber auch geistig — die Kunstäußerungen aller Zeiten und Völker nahebringen, wir überschauen die Kunst,.geschichte“ unseres Geschlechtes nicht mehr als aufsteigende Entwicklungslinie odet gar als Fortschritt (wie dubios ist dieser Fortschritt“ im Geistig-Seelischen!). Auch in ‘der Kunst ist die Zeit relativ geworden, sie hat nicht mehr die allein ord- nend-wertende Macht. Alles ist nah und kann vertraut werden, wir brauchen gar nicht erst magisch-mythisch zu denken versuchen, wir brauchen keinen ästhetischen Wuduzauber: durchaus nüchtern sind wir imstande, die Wirkung des Gerichts auf der Westwand der Kathedrale von Torcello, die Erstarrung Apollons zu Buddha in den baktrischen Provinzen Alexanders, Buschmannzeichnungen, Giotto und Chagall, die ägyptische Monumentalität und das Raffinement der wiederkehrenden Rokokoepochen zu spüren, intensiv, direkt. Wir haben uns einfach abgewöhnt, die Kunst auf dem Umweg über den Intellekt, über das katalogisierende Wissen zu erleben (dadurch unterscheidet sich unser Kunsterleben grundlegend von jenem des 19. Jahrhunderts), wir sind ansprechbar von jeder Künstäußerung, das ist es. Wir wissen, daß die Kunst, die bildende wie jede andere, aus dem ewig gleichen, elementaren innersten Bereich des Menschlichen kommt, aus seiner Primärsubstanz, dorther, wo der Zusammenhang mit der Transzendenz nie gelöst werden kann, höchstens verschüttet auf kurze Zeit.
Also stehen wir mitten im imaginären Museum, diesem großen Lobgesang des Menschengeschlechts, der ununterbrochen entsteht aus Qualen der Unzulänglichkeit, aus Ahnung des Vollkommenen, aus dem schöpferischen Leid, das wir brüderlich verstehen. Soweit die Kunst Kunst ist und nicht Konfektion, hat sie Anteil an diesem imaginären Museum, durch das es keinen anderen Führer gibt als unser wachsames Herz.
Niemand denkt daran, dieses imaginäre Museum zu realisieren, Monstermuseen schuf die Vergangenheit (heute versuchen es nur Diktatoren — aber stets nach einem irrenden Qualitätsprinzip). Man kann vielleicht die Briefmarken, die seit hundert Jahren auf der Welt herausgegeben werden, mit größter Anstrengung an einem Ort sammeln — die Kunstwerke nicht. Nicht wegen ihrer Zahl und ihres unermeßlichen Wertes, sondern vielmehr, weil sie vielfältiges Leben und gewaltige Strahlungskraft haben. Das imaginäre Museum ist der geometrische Ort menschlicher Schöpfungskraft. Alles Geschaffene, auch das Verschollene, Untergegangene, ist dort unverweslich bewahrt.
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