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Algiers „historische Stunde“?

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Algier stöhnt unter den aus dem Mittelmeer aufsteigenden Schwaden weißen Wasserdampfes, der sich mit den von der Wüste her wehenden backofenheißen Chergui-Böen zur perfekten Natursauna vermischt. Benbellas „schaffende Massen“ — Hafenarbeiter, Busschaffner, die letzten Zimmerleute der wenigen noch nicht eingestellten „kapitalistischen“ Baustellen aus der französischen Zeit — bewegen sich schwerfällig wie Froschmänner im Unterwasserfilm. Die wieder zahlreicher gewordenen Europäer, meist Abenteurer aller Schattierungen und Länder, welche die verschwundenen französischen „pieds noirs“ ablösten, zwängen sich mit nervöser Gereiztheit durch das träge flanierende Eingeborenenvolk der Rue d’Isly, Algiers ehemaligem Luxusboulevard. Von dessen Mauern lösen sich in der feuchten Hitze kürzlich angeklebte, fade aussehende Werbeplakate: „Heldenvolk, bedenke die historische Stunde, sage JA zur Verfassung".

Vom Bois de Boulogne dröhnt seit Sonnenaufgang dumpfes Rumoren von Trommeln, gelegentlich durch schrilles Schalmeiengedudel aufgelockert. FLN-Jugend musiziert, die „historische Stunde“ zu untermalen. In den Ministerien beugen sich Benbellas Neu- beanite ‘ schweißpeflenhe’sät ub’er Ak- ‘tenstücke, deren frlhält sie verbissen’ zu fassėn vėršutKžh.

Verfassung ohne Parlamentarismus?

Benbellas Neubeamte oder Jungtürken, wie sie in der französischen Presse genannt werden, sind meist alte Partisanen oder Unteroffiziere aus des Obersten Boumediennes Volksarmee. Sie mußten in den letzten Wochen eiligst dort eingesetzt werden, wo sich die letzten Verwaltungsexperten des „alten Regimes“, das heißt der eingespielten, früheren algerischen Exilregierung, mit dessen ehemaligem Chef, Ferhat Abbas, aus der Mitarbeit am „Aufbau des’ sozialistischen Algerien“ zurückgezogen hatten oder entlassen worden waren. Unser Gesprächspartner ist zwar noch vom alten Regime, vermeidet aber zunächst vorsichtig, Partei zu ergreifen. „Eine Mannschaft muß gewiß auf einer Linie liegen“, räumt er ein, „doch wie wird das werden, mit den Ersatzpräfekten und -regierungsräten, die nieht einmal richtig lesen und schreiben können? C’est malheureux, die ,Abbasiden’, das heißt die Leute um Ferhat Abbas, waren nützlich, nur glaubten sie eben, soziale Gerechtigkeit mit Parlamentarismus verbinden zu können, und Ben- bella glaubte das nicht.“

Algeriens neue Verfassung, zu deren Annahme das Volk mit Trommeln und Schalmeien aufgerufen wird, war der Grund für den Abgang der „nützlichen Abbasiden“. Als Benbella sich vor einem Jahr, gestützt auf die Mao- tsetungs und Castros Militärsozialismus nacheifernde Volksarmee des Obersten Boumedienne, zum Steuermann des neuen Algerien aufschwang, hatte der bürgerliche Ferhat Abbas — anders als die verdrängten Rechtsoppositionellen und Linksabweicher — zu ihm gehalten. Hinfort als Linksliberaler bezeichnet, nahm Abbas mit dem zweitrangigen Amt des Parlamentspräsidenten vorlieb. Er sekundierte Benbellas Sozialismus noch weiterhin bei der Kaltstellung von Dezentra- listen, Syndikalisten und des anfänglichen Mitregenten Mohammed Khider.

Als Boumediennes Militärpolizei in den vergangenen Sommermonaten an die Verhaftung einer Gruppe politischer Feinde des Gespanns Benbella- Boumedienne ging, wurde das Mißtrauen zur offenen Opposition; Benbellas Verfassungsprojekt, das sein Regime verewigt und keinen Parlamentarismus zuläßt, gab den Ausschlag. „Die neuen Delegierten werden von der .Partei’ nominiert werden“, klärte uns der Gewährsmann weiter auf. „Abbas hätte auch das noch hingenommen, wenn die Partei eine Massenbasis hätte. Das ist jedoch nicht der Fall. Die FLN von heute — nennen Sie sie Partei oder Einheitsfront, das tut nichts zur Sache —, das sind nur noch Clans; Clans kann man manipulieren.“

Die ewigen Meuterer

Die Massen freilich, die in Algiers feuchter Hitze schlecht und recht werkenden Hafenarbeiter, Busfahrer, Bauarbeiter, die Bauern auf dem Lande, kümmert der Verfassungsstreit indes recht wenig. Für Sozialismus sind sie alle, und es genügt, ihnen weiszumachen, daß dieser oder jener Opponent Benbellas den Sozialismus gefährde. Ihr Ja zur Volksabstimmung ist sicher. Die mit dem Auslaufen des „kapitalistischen“ Rhythmus zur Neige gehenden Arbeitschancen — bei Mangel an neuen „sozialistischen“ — bringen sie noch kaum mit Benbellas ehrgeizigem Programm unter beschränkten Möglichkeiten in Zusammenhang. In die Stadt dringende Gerüchte von Zusammenstößen zwischen meuternden Kabylenstämmen und Volksarmisten nehmen sie gelassen hin. Einige Halbgebildete kommentieren: „Die haben schon immer gemeutert, früher gegen die Türken und Franzosen, heute gegen unsere Armee.“ Sogar die steigenden Lebensmittelpreise rühren sie venig. In der Kasbah nährt man sich noch immer — Allah allein weiß, auf welchen Wegen — für wenig Geld. Leicht verdreht bezeichnen die Abbasiden diese volkstümliche Lethargie als „Effekt der herrschenden Demagogie“; Benbellas Jungtürken folgern nicht-weniger prätentiös: „Das Volk weiß eben, was es will."

„Wieso verschwinden im Sozialismus Waren?"

Nur bei einigen von ihnen dämmert es allmählich von der Folgenschwere lenbellistischer Ambitionen: „Sag , Bruder Almani, du hast das doch studiert, wieso verschwinden im Sozialismus viele Waren vom Markt; warum bekommt man plötzlich nicht mehr, was man noch kürzlich kaufen konnte?“ Tatsächlich werden in Algier schon gewisse populäre Zigarettensorten unter dem Ladentisch gehandelt; Büromittel gehen aus und kommen nicht mehr nach; das E-Werk droht mit Stromsperren; im ganzen Land gibt es nur noch faden grauen Zucker, letzte Auslese, und die Fleischpreise nähern sich — zudem neuerdings mit einer Verbrauchssteuer belegt — den Ausmaßen in östlichen Staatsläden. Täglich wird eine neue — fruchtlose — Kampagne gegen Spekulanten gestartet. Nur die unerwartet gute Ernte hat das mitten in kollektivistischen Experimenten steckende Landvolk gerettet. Doch schon war die mit Kollektivismus einhergehende Bürokratie wirksam genug, große Teile dieser Ernte verkommen zu lassen.

Algeriens wirtschaftliches Gesicht zumindest nimmt wahrhaft langsam volksdemokratische Züge an — zwangsläufig. Heißt doch Sozialismus in armen Ländern anfangs nichts anderes als — bestenfalls — Investieren, vorwiegend jedoch Experimentieren auf Kosten bequemen Gegenwartslebens.

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