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Das karolingische Imperium

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Soziale und geistige Problematik eines Großreichs. Von Heinrich Fichtenau. Verlag Fretz und Wasmuth, Zürich. 337 Seiten.

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Soziale und geistige Problematik eines Großreichs. Von Heinrich Fichtenau. Verlag Fretz und Wasmuth, Zürich. 337 Seiten.

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Echte Geschichtsschreibung wurzelt immer im Geschichtserleben, im Erlebnis also zunächst der eigenen Zeit. Dieses fordert den Historiker auf, seine Urteile über vergangene Epochen zu revidieren, nicht nach seinem persönlichen Vorurteil, sondern gemäß der Verpflichtung, die alten Quellen neu zu erforschen mit der Sonde jener Erfahrungen und Kenntnisse, die ihm die Gegenwart mittelt. Es ist also kein Zufall, daß gegenwärtig und gerade in Österreich eine neue kritische Auseinandersetzung mit den Kulminationspunkten der abendländischen Geschichte beginnt. — In diesem Sinne will bereits das hochbeachtliche Werk des Grazer Althistorikers Fritz Schachermeyr über Alexander den Großen gesehen werden, das den Helden und Heros europäischhumanistischer Tradition aller falschen Patina und alles heroisierenden Pathos entkleidet, um seine Größe und Grenze neu zu würdigen. Auf derselben Linie steht nun das glänzend geschriebene, innerlich und äußerlich hervorragend ausgestattete Werk des Wiener Historikers Heinrich Fichtenau. Tausend Jahre haben Deutsche und Franzosen den „heiligen Karls-Kaiser als Ahnherrn und Gründer Europas gefeiert. Bis dann, seit Voltaire, der Rückschlag einsetzte, der zunächst im Streit des Dritten Reiches um „Karl der Große oder Charlemagne" einen Tiefpunkt und Höhepunkt zugleich erreicht. — Fichtenau geht nun, um dem vieldeutigen Phänomen dieses Gründers des Abendlandes näherzukommen, entschieden neue Wege; er untersucht, ausgerüstet mit großem soziologischem, psychologischem und religionsgeschichtlichem Fachwissen, die innere Struktur dieses Großreiches, das so ganz auf die Erscheinung seines Namensträgers abgestellt war. Behutsa i deckt Fichtenau die variierenden Schichten der Hofhistorie und Legende des offiziösen Karlsbildes ab und zeigt eine mächtige Persönlichkeit, deren geschichtlichen Erfolg im wesentlichen mitbedingt ist durch ihre klug-konformistische

Übereinstimmung mit Zeit, Umgebung, Tendenz und Entwicklung seines Volkes. — Dieser Mann, der sicherlich aus einem Guß war, ist nun aber umgeben - on einer Hofgesellschaft, von den „Akademikern“, von Beamten, von Literaten durchaus problematischer Herkunft und Zukunft, von einem Adel, der sich nur schwer lösen kann aus den Verfalls- und Zersetzungserscheinungen der merowingischen Epoche. Dazu stößt ein Klerus, der voll und ganz Anteil hat an der jähen Mischung von antikischen, heidnischen und germanisch-volkshaften Elementen, die diesem Hof und Reich jenseits und doch in Berührung und Spannung zu Byzanz, Bagdad und Aitrom das Mal des Barbarischen, Herrisch-Gewollten, überzüchteten geben. „D e- cadence" in der Geburtsstunde des Abendlandesl — In sehr farbenprächtiger Schilderung gelingt es Fichtenau, eindrucksvoll aufzuzeigen, wie die Zersetzung in der spätkarolingischen Epoche, der lange Verfallsgang des Jahrhunderts nach Karl dem Großen reichste Ansätze bereits in seinem Werk selbst findet. Mit Recht sind deshalb die düsteren Kapitel der Reichsgeschichte nach Karl „Parteikämpfe und Reichsverfall" und „Das Ende des Großreiches' im engen Zusammenhang mit Klimax und Blüte gesehen. Der Stamm trug das Gift der Zersetzung bereits in der Wurzel an sich. „Es war ein bitteres Erbe, das Karl der Große seinen Nachfolgern hinterließ." (S. 88.) Das Reich, allzu schnell aus disparaten Elementen zusammengefügt, zerfiel unter dem Spannungsdruck eben dieser in kurzer Zeit.

Fichtenau bewältigt einen reichen Stoff auf knappstem Raum in vorbildlicher Ökonomik. Viele kurzgefaßte Bemerkungen, Beobachtungen und Schlüsse zwingen zum Nachdenken: Europa als ein Komplex ihm immanenter Größe und Schwäche — grandeur et misJre de l'Europe — wird sichtbar in dieser Stunde seiner Empfängnis.

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