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In memoriam Johan Huizinga

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Diese Sammlung von Aufsätzen Johan Huizingas bedeutet eine wertvolle Ergänzung der bisher ins Deutsche übersetzten Werke des großen holländischen Historikers. In vier aus seinem Werk „Im Banne der Geschichte“ übernommenen Kapiteln geht er von der These aus, nach der die Weltgeschichte als Basis aller Philosophie zu betrachten sei, um anderseits die „Unmöglichkeit historischer Gesetze und Normen“ festzustellen. „Wir werden immer wieder beobachten, daß die Geschichte sich gegen Schemen und Systeme außerordentlich spröde verhält und ihres Weges geht. Damit wird freilich die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer Beobachtung, wie die herrschenden Ideen das historische Denken beeinflussen, keineswegs aufgehoben.“

Der häufig aufgestellten Behauptung, die Geschichtsschreibung sei keine Wissenschaft, tritt Huizinga mit der Feststellung entgegen, daß sie „nicht anders als die Philosophie und die Naturwissenschaften darnach strebt, eine .Form der Wahrheit über die Welt' zu finden und eine Weise nach dem Sinn unseres irdischen Lebens zu suchen“. Aus Wahrheitsdurst und einem Lebensbedürfnis „wendet sie sich in höherem Grade an eine breitere Öffentlichkeit als die anderen Wissenschaften, weshalb eine nur für Fachgelehrte bestimmte Geschichtswissenschaft ihre Funktion nicht erfüllen könnte, denn dieKulturgemeinschaft selbst, verlangt von ihr die Erkenntnis. Diese Gemeinschaft selbst will und muß sich von ihrer Vergangenheit Rechenschaft ablegen ... denn die Kultur unserer heutigen Welt (ist) mehr denn je von Vergangenheitsvorstellungen durchtränkt“. Doch sei wiederholt, daß der Versuch, die Welt durch die Vergangenheit begreiflich zu machen, nicht wegen ihrer eigenen Bedeutung unternommen wird. „Es geht nicht um nützliche Belehrung für das Verhalten in einem bestimmten Fall, der in unmittelbarer Zukunft eintreten könnte, sondern um einen festen Standpunkt überhaupt.“

In der vorliegenden Sammlung durfte Erasmus von Rotterdam, mit dem sich Huizinga wiederholt befaßt hat, nicht fehlen, weshalb hier aus der Gedenk-schrift zu seinem 400. Todestag das Kapitel „Erasmus über Vaterland und Nationen“ übernommen wurde. Er preist darin seinen großen Landsmann als Kosmopoliten im Sinne Aristophanes' und Ciceros, die das Axiom aufgestellt hatten, der Weise könne überall sein Glück finden. Anders als zahlreiche Humanisten seiner Zeit verurteilt Erasmus deren nationale Ueberheblichkeit, die sich bereits während der Kreuzzüge manifestiert hatte, als große und kleine Fürsten die übernational gedachte, wie keine andere jemals durch ihr Ziel geheiligte Parole nach ihrem Gutdünken auslegten und dadurch ihre Mission schädigende Gegensätze hervorriefen. Als die Grenzen der Staaten sich allmählich immer schärfer abzeichneten, verschärften und „verpolitisierten“ sie sich nur noch mehr. Diese Antagonismen zu bekämpfen hat Erasmus nicht versucht, da ihm die wichtigsten Nationen, wie Engländer, Franzosen, Deutsche und Italiener, deren Wesensart er in ihren Heimatländern beobachtet, jedoch nicht ergründet hatte, zu verschiedenartig und unversöhnlich schienen, um ihrerseits eine innige Fühlungnahme erhoffen zu lassen. Ein Vorläufer der heutigen Kosmopoliten, als welcher Erasmus in der Zeit des Völkerbundes und Paneuropas einige Male gefeiert wurde, ist er keineswegs gewesen, da ihm die geistige Elite allein die Welt bedeutete, und nicht wie uns seither die Völker. Erasmus' bleibendes Verdienst um die Kultur besteht darin, daß er seine Heimat, England und Deutschland mit der klassischen Bildung durch die Propagierung der toten Sprachen vertraut machte und aus eigenem durch deren mustergültige Anwendung auf seine Zeitgenossen reformierend einwirkte. Zum Kosmopolitismus nach heutigen Begriffen konnte Erasmus auch deswegen nicht gelangen, da er die Bedeutung der Sprachen jener Länder, die er in jahrelangen Aufenthalten, trotz seinen gegenteiligen Behauptungen, in ihren Grundelementen durch das- alltägliche Leben außerhalb seiner Sphäre sicherlich beherrschte, nicht richtig einschätzte. „Es steckt wohl ein wenig Pose darin“, meint Huizinga, wenn Erasmus behauptet, er könne Englisch und Italienisch weder lesen noch schreiben, und er sich damit abgefunden habe, mangels gründlicher Sprachkenntnisse in die bedeutenden Werke dieser Länder nicht Einblick nehmen zu können.

Aus- der zweiten Abteilung sei hier eine Vorlesung hervorgehoben, deren Material in einem geplanten Werk, „Der Geist des 12. Jahrhunderts“, verwendet werden sollte. In diesem Kapitel zeigt sich Huizinga auf der Höhe seiner Meisterschaft, weshalb lebhaft zu bedauern ist, daß das in Aussicht genommene Werk nicht zustande gekommen ist. In den Ausführungen über diese in ihrer Bedeutung für den Ablauf des Mittelalters viel zuwenig bekannte Epoche feiert Huizinga Frankreich als „das Land, welches zu der ganzen Kulturschöpfung und -ge-staltung mehr als irgendein anderes beigetragen hat. Frankreich drückt der mittelalterlichen Kultur den Stempel auf. Das französische Uebergewicht ist im Grunde ein viel glänzenderes Schauspiel als das des .Grand siecle' (Ludwigs XIV.). Aber noch klingt die Ruhmestrompete nicht so laut“. Im weiteren zeigt sich Huizinga noch begeisterter: „Kein anderes Jahrhundert der abendländischen Kultur ist dabei so universell gewesen, so wenig durch Grenzen behindert im Austausch von materiellen und geistigen Gütern, trotz allen Unterschieden von Volksart, Landesart und Grad der Entwicklung ... Allerdings über Paris ertönte das Lob bereits hell genug. In jenem Zentrum des geistigen Wachstums, das Frankreich hieß, war diese Stadt schon damals wiederum Mittelpunkt. Aber der Vorrang von Paris hat zu jener Zeit das Licht der kleineren Städte durchaus nicht verdunkelt. Ja, gerade im Bereich des Schullebens hatten Chartres, Tours, Orleans, Reims ebensogut ihren alten und jungen Ruhm. Zeiten des Aufblühens sind gewöhnlich keine Epochen der Konzentration. Alles ist im Aufbruch und ergreift den Wanderstab“ Pilger, Kreuzfahrer, Wanderprediger, Ritter auf der Suche nach Dienst oder Abenteuer, und nicht zuletzt die Mönche. Erst das 13. Jahrhundert, dessen Werk der Triumph der Orthodoxie ist, brachte Ordnung und Harmonie in die Unruhe des vorhergehenden. „Sieger ist die Kirche. Man darf niemals vergessen, daß im Mittelalter die Kirche nicht nur der Träger des Glaubens, sondern auch der Träger der Kultur schlechthin gewesen ist.“

Den Abschluß der Sammlung bilden drei Aufsätze, in denen Huizinga der großen Zeit seines Vaterlandes, das trotz seiner Kleinheit im Ringen der großen Mächte ein gewichtiger Faktor gewesen ist, mit Stolz und einer Herzenswärme gedenkt, die man nur zu oft im heutigen, auf seine Stammländer reduzierten Oesterreich vermißt, dessen vornehmste Aufgabe als Erbe dieses Namens ist, seiner mit ihm verbundenen Vergangenheit stets eingedenk zu bleiben.

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