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Der russische Film

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In der Sowjetunion gab es zu Beginn dieses Jahres 26.582 ständige und 8757 Wanderkinos. Das bedeutet, daß auf 6000 Einwohner ein Kino entfällt (in Österreich auf etwa 10.000 Einwohner). Der laufende Fünfjahresplan sieht bis Ende 1950 die Ergänzung des Kinoparks auf 46.750 Häuser vor. Davon befinden sich allein in Sewastopol, das durch den Krieg buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht worden war, zur Zeit 59 neue Kinos in Bau. Um das Riesennetz von Kinos möglichst rasch zu versorgen, werden von neuen Filmen im Normalfall 800, in besonderen Fällen 1200 bis 1500 Kopien hergestellt.

Diese Zahlen sind keine Lobeshymne und kein Klagelied. Sie sind Tatsachen. Kein Mensch, der das Schicksal dieses Jahrhunderts auch in den Dunkelkammern der modernen Menschenführung und Menschenverderbung des Films sich formen sieht, wird an ihnen vorbeikommen. Den anderen müßten sie zu denken geben.

Wenn ein Land mit so ungeheurer Breitenentfaltung des Films nunmehr zum zweitenmal in einer Festwoche einen Querschnitt, diesmal seiner Spielfilmproduktion, gibt, dürfen daher seine Darbietungen ganz besonderer Aufmerksamkeit sicher sein. Ein Gesamturteil muß dem Abschluß der Festwoche vorbehalten bleiben. Doch bot schon die erste Hälfte Interessantes genug, um in der Öffentlichkeit stärkstem diskutiert zu werden.

Unter einem besonders glücklichen Stern stand der Eröffnungsabend, der nach den zuversichtlichen festlichen Ansprachen über die Friedensmission des Films förmlich die Probe aufs Exempel machte. In dem Färb- und Musikfilm „Das Lied von Sibirien" entfaltet sich in der Tat wie kaum jemals zuvor in irgendeinem Film dieser Gattung ein breitströmendes, hinreißendes Bild eines Landes von strenger Schönheit und seines gesunden, arbeitsamen, gemütvollen Menschenschlages. Den beiden Zielen, die Binnenkolonisation aufzuzeigen und zugleich bei anderen Völkern um Verständnis für die Eigenart dieses Landstriches zu werben, wird dieser Film in glücklichster Weise gerecht.

Ein Thema von zeitloser Problematik, der Geist im Kampf gegen Trägheit und Bosheit,

entwickelt der Film „Der Chirurg P i r o g o w“, aus dem Leben und Werk des bekannten russischen Arztes (1810—1881), Erfinders einer osteoplastischen Fußamputation sowie Bahnbrechers der Äthernarkose und des Gipsverbandes. Szenen von hoher Menschlichkeit heben dieses Werk über den Durchschnitt der üblichen nationalen Filmbiographien.

Problematisch blieb bei aller Hohen Schule der Regie, Kamera und besonders der scharf akzentuierenden Musik der dritte Abend, die Verfilmung von Konstantin Simonows „Die russische Frage“, die in dem brennend aktuellen Bühnenstück im Grunde eine „amerikanische“ wird. Eine eklatante Fehlbesetzung (die schwankende Gattin des Journalisten) reißt das Grundproblem des Films direkt aus den Wurzeln menschlicher Tragik und verschiebt es einseitig auf das überlaut tönende Schlachtfeld politischer Rhetorik, auf dem der Film als optische Kunst unzuständig ist. Damit gewinnt manches Wort eine überscharfe, ja mitunter mißverständliche Bedeutung, die in keiner Weise der eingangs erwähnten Sendung des Films und dieser als Festival des Friedens und Verstehens angekündigten besonderen Veranstaltung dienlich sein kann.

N ben solcher Dokumentation nationaler Höchstleistungen fällt es begreiflicherweise in diesen Tagen der durchschnittlichen Produktion anderer Filmnationen nicht leicht, sich zu behaupten. Doch scheint gerade eben ein Gentlemanagreement von unnotwendigem Ausmaß den Russen in ihrer Festwoche den Vorrang überlassen zu wollen … Am strengsten hält sich Österreich an diese Vereinbarung und bleibt mit „Königin der Landstraß e“, einem schalen Aufguß von Zuck- mayers Zirkusromanze „Katharina Knie", mehr als im traditionell bescheidenen Hintergrund. Aber auch der französische „Ruys Blas“, ein völlig verunglückter Jean Cocteauscher Victor Hugo, ferner ein amerikanischer Tränenthriller („M utterher z“) und ein englisches Eheschattenbild in drückendem Grau in Grau, „Drei Ehe n“, laufen letzten Endes außer Konkurrenz. Man wird in Moskau diese loyale Aufmerksamkeit zu würdigen wissen.

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