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Ein neuer Blick auf neue Wirklichkeiten

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Das Neue hat im Zeitalter der i Massenkommunikationsmittel die I Chance, übersehen zu werden. Wer besitzt die Kraft und die Muße, aus einigen tausend „modernen“ Bildern, . die oft Anempfindungen an die Arbeiten einiger Pfadfinder sind, die ! wenigen Werke zu er-lesen, die j nicht dubioses Make-up und listige , Montage sind? Wer erliest aus tau- , send Neuerscheinungen auf dem . Büchermarkt, neben den Bergen respektabler Spezialwerke, neben dem Papierschutt (die Lawinen der Taschenbücher können von diesem , Schutt neuer Art eine vage Vorstel- , lung vermitteln) die seltenen Pro- , duktionen, die Zugvögel der Zukunft ! sind?

Sprechen wir von dem Neuen, das die Chance hat, übersehen zu ! werden. Das Neue, das in der Luft '. liegt, stellt sich naturgemäß in jenen Grenzräumen ein, in denen unsere Zivilisation hinauswächst über die Hecken und Zäune und Mauern, hinten denen die Gärten, Kasernen, Fabriken und Rummelplätze unserer alten Kriege und Lustbarkeiten liegen. Vielleicht werden in absehbarer Zeit Menschen in unserem Milchstraßensystem siedeln wie unsere Vorfahren in vergangenen Jahrtausenden um das Mittelmeer. Bleiben wir aber zunächst auf dieser Erde: Auf ihr beginnen immer mehr Menschen sich des aufrechten Ganges bewußt zu werden und mit neuen Augen neue Wirklichkeiten wahrzunehmen. Jahr für Jahr entstehen neue Wissenschaften, die sich zumeist um die beiden Pole einer Ellipse zentrieren: um das Kraftfeld mitmenschlicher Beziehungen und um die offenbarungswürdigen Geheimnisse jener strahlenden Fülle von Beziehungen, die ein „aristotelisches“, männlich-messendes, mit harter Faust herrschendes Weltzeitalter europäischer Provenienz abwertend die „Materie“ nannte: eine sa ge Masse“> eine „schmutzige Materie“, unrein, weibisch-gefährlich; ihr war nicht zu trauen, wie Doktor Faust erspürte. Verbarg sich hinter ihr nicht der dunkle Schoß einer fruchtbaren Magna Mater einer Urmutter, die ihre Kinder ohne Ansehen in ihren Schoß zu-ruckschlang?

Dieses dualistische, materialistischidealistische Zeitalter hat sich seine Welten mit zwei Augenpaaren erobert: mit einem Augenpaar, das seine Waffen der „Außenwelt“ zuwandte: mit Kanonen, Fernrohren, optischen Geräten (es ist kein Zufall, daß in den Niederlanden früh neben „Krieg, Handel und Piraterie“ eine optische Industrie und das ihr zugehörige Erfindungswesen beheimatet sind). Das bewaffnete Auge erspäht den Feind, das feindliche Schiff, erspäht die Mikrobe, sondiert den Leib des Menschen, schneidet, teilt, trennt, analysiert, löst auf: Dissecare naturam: Scholastiker sehen die Berufung des Intellekts in diesem Trennen, Teilen, Auflösen. Unsere Naturwissenschaften sind untrennbar von diesem bewaffneten Auge, das sich mit immer mehr Geräten armiert, zunächst auf dem Kriegsschiff, heute mit Funkmeßgeräten im Raumschiff und, immer noch, im Panzerwagen mit seiner Optik. Neben — dicht neben — diesem bewaffneten Augenpaar steht im überaus empfindlichen Leib dieser in Europa gewachsenen Menschengattung ein anderes Augenpaar: Dieses sieht nach „innen“. Sein Reich ist nicht von dieser Welt: das ist das „Reich des Geistes“. Theologen und Philosophen krümmen den Blick nach „innen“: und sie ersehen sich da ihre Himmel und Höllen, ihre Ideale und Ideen, und bauen ihre Geistburgen und Geisterburgen. Max Stirner, dann Friedrich Nietzsche schreien auf: Was ist das für ein gespenstisches Reich? Dieses Reich der „idealistischen“ Philosophie, dieses Geisterreich von Philosophen, die nicht aus ihrer theologischen Haut herauskönnen, die sich nicht zu häuten wagen?

Mit neuen Augen sehen. Nietzsche weiß: wer mit neuen Augen sehen kann, ist der neue Mensch. Nietzsche weiß sich selbst als „alten Adam“, der den Durchbruch erzwingen möchte: orgiastisch, in Sils Maria, am blauen Meer.

Das wirklich Faszinierende an einer heutigen zeitgenössischen Kunst, Dichtung, Lyrik, Architektur, Modeschöpfung ist, daß wir hier zu ahnen beginnen, was ein neuer Blick auf neue Wirklichkeiten dem Menschen an neuen Möglichkeiten — sich darzuleben und zu mutieren — eröffnet.

„Das optische Zeitalter ist ein Abenteuer, das kaum begonnen hat.“ Das ist der letzte Satz in dem Buch von Karl Pawek, „Das optische Zeitalter“.

Was ersieht Karl Pawek in der Flut der Bilder, die heute auf „jedermann“ einströmt. Zunächst dies: Einen „Konflikt zwischen Bildgläubigkeit und Vernunftgläubigkeit“. Das Auge scheint die Vernunft zu verdrängen. Wir sehen nun zwar viele „neue“ Bilder, besitzen aber nicht mehr Augen: neue Augen, die dieser großen Herausforderung, eine neue Wirklichkeit zu erobern, gewachsen sind. Unsere Sinne (und unsere Sinnlichkeit) sind nicht geschult, nicht erzogen, nicht pflegerisch betreut: zur Wahrnehmung dessen, was zu sehen ist. Es ist die Überzeugung des Karl Pawek: bisher wurde viel zu viel „übersehen“. Der Mensch übersah, was ihm nicht in den Kram paßte, was sich seinen Begriffen, Vorstellungen, Einbildungen nicht fügte. Die neuen Bilder, wie sie das Life-Photo und, anders, eine moderne Kunst (Pawek unterscheidet zwei Moderne) dem Menschen vorstellen, sind Erkenntnismittel, die es zu nutzen gilt. Unendlich viel von einer „Materie“, die bisher als „schmutzig“, „häßlich“, „banal“, „nicht sehenswert“ erachtet wurde, bietet sich nun in einer Schönheit dar, die Offenbarungscharakter besitzt. Die sogenannte „Natur“ und vor allem der Mensch

— in der Bewegung, in der je einmaligen Intimität eines Augenblicks

— werden in einer Fülle und Vielfalt und Vielfärbigkeit sichtbar, von denen sich ein lineares Systemdenken und die Vernunft eines einseitig bewaffneten Auges, das nur ein bestimmtes Ziel anvisiert, nichts träumen lassen möchte.

Es ist folgerichtig, daß Karl Pawek jetzt darangeht, nicht nur in weiteren Büchern die Revolution des Auges — des Menschen — zu beobachten — als ein leidenschaftlicher Liebhaber —, sondern bereits am Werk ist, „politische“, metapolitische Konsequenzen aus seiner Entdeckung zu ziehen: Er organisiert eine große internationale Wanderausstellung von Photographien, die den Menschen — in der Herrlichkeit, die nicht mehr übersehen werden darf, bei Strafe der Selbstzerstörung — zeigen.

Man spricht heute — Gott sei Dank — von einer Strategie des Friedens. Eine Strategie des Friedens setzt aber ein offenes Auge voraus: ein Auge, das toleranter ist als die Vernunft eines Interessenverstandes, der es sich leisten zu können glaubt, alles das zu „übersehen“, was ihm nicht paßt. Wer die innere Achse von Karl Paweks „Optischem Zeitalter“ sehen möchte, der lese, zur Einführung in sein Werk, zuerst die Kapitel „Die neue Toleranz“ (S. 231 ff.) und „Der neue Optimismus“ (S. 286 ff.): und wird von hier aus den Zugang zu den politischen, spirituellen, religiösen und immer wieder gesellschaftlichen Bezügen dieser Einführung in ein neues Sehen finden.

Es ist durchaus kein Zufall, daß Paweks „Optisches Zeitalter“ sich unter anderem auch mit der „Kleri-kalisierung der Kirche“ befaßt: Eine offene Katholizität setzt ein offenes Auge voraus. „Die neue Aufklärung“, für die Pawek plädiert, beginnt „unten“: Die neue Epoche gehört nicht einigen Snobs, die von „oben“ her „die Verhältnisse übersehen“, sondern den breitesten Schichten in den Völkern der einen Menschheit, die — ohne es zunächst zu wissen und zu ermessen — in die Erfahrungen neuer Wirklichkeiten hineinwachsen. Eine neue Objektivität — viel breiter, größer, voluminöser, farbiger und lebendiger als die Scheinobjektivität monomaner Buchgebildeter — wächst heran. Die im deutschen Raum leider so vernachlässigten Probleme einer breiten Volkskultur, einer Erziehung und Bildung der Massen und der sogenannten „Erwachsenen“ (ungeachtet der großen Traditionen deut- 1 scher Volksbildung im 19. und frü- 1 hen 20. Jahrhundert!) stellen sich 1 hier in neuen Perspektiven dar. In dem von „oben“ so oft übersehenen i „Massenmenschen“ wächst spontan ; — provoziert von der neuen Bilder- . weit — ein neuer Realismus heran. „Menschen, die zur neuen Epoche gehören, sind optimistisch. Sie , freuen sich darüber, daß sie gerade in dieser Zeit leben.“ Der Optimismus dieses Menschen beruht „darauf, daß er fasziniert ist von der Wirklichkeit. Der neue Realismus ist ein optimistisches Erlebnis. Und der Mensch der neuen Epoche erlebt sich selbst als Mitbesitzer und Erbe der ganzen Wirklichkeit.“

Beamtete Geistverwalter werden nach diesem Zitat hier vielleicht die Repräsentanz eines „ruchlosen Optimismus“ wittern, vor dem Schopenhauer gewarnt hat. Dem ist nicht so: Der Autor des „Optischen Zeitalters“ spricht seine Einladung, sich einem neuen Optimismus und einem neuen Realismus zu eröffnen, zu sehen, was alles wirklich ist — am Menschen und um den Menschen —, auf der Höhe eines Lebensweges aus, der ihn lange, schwere Jahre durch die Täler, Niederungen und engen Pässe eines europäischen Christentums geführt hat, das in die Kriege und Bürgerkriege am Beginn der Neuzeit — im 20. Jahrhundert — nicht zuletzt deshalb geschlittert ist, da es nicht wagte, die Augen zu öffnen. Adventus domini: die Ankunft des neuen Menschen künden neue Bilder an.

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