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Ein Selbstporträt der Schweiz

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Die Leser der „Furche“ werden mit Helvetizismen wie „Landi“ und „Expo“ wenig anzufangen wissen. Unter dem Kosenamen „Landi“ ist den Schweizern die „Schweizerische Landesausstellung 1939“ von Zürich in einer ans Sentimentale grenzenden liebevollen Erinnerung, und die

„Expo 64“, die „Exposition Nationale 1964“. in Lausanne ist deren Nachfolgerin. Wie jene am Vorabend und zu Beginn des zweiten Weltkrieges in aller Munde war, so ist die „Expo“ des Jahres 1964 das nationale Ereignis von heute. Für die Schweiz sind die alle 25 Jahre stattfindenden Landesausstellungen nicht nur Manifestationen ihres Willens zur Eigenart und Bekenntnisse zu den Grundlagen der Eidgenossenschaft, sondern darüber hinaus so etwas wie nationale Besinnungspausen und Standortbestimmungen, die dem Volk Gelegenheit geben wollen, sich der seit einem Viertel Jahrhundert zurückgelegten Wegstrecke bewußt zu werden und die künftige Marschrichtung abzustecken. So trägt jede dieser vom ganzen Volk besuchten Landesausstellungen ihr eigenes, unverwechselbares Gesicht, in dem sich Gesicht und Geschicke der Generation spiegeln, die gerade am Zug ist. Die schweizerischen Landesausstellungen sind gewissermaßen Illustrationen und Dokumentationen zur Geschichte der modernen Schweiz.

1939: Rückzug auf sich selbst

Das Lebensgefühl jeder Generation, ihr Verhältnis zum nationalen Erbe und den nationalen Aspirationen, aber auch das Maß ihres Selbstvertrauens und ihrer Zukunftshoffnungen schlägt sich in den Landesausstellungen nieder. Wenn in dieser Bilderreihe dasjenige der „Landi“ seinen besonde-

ren Platz hat, so deshalb, weil sie eine Demonstration des Selbstbehauptungswillens angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung geworden war, die politisch im rechten Moment kam. Die „Landi“ war ein schweizerisches Bekenntnis zur Eigenständigkeit der Eidgenos-

senschaft, sie war ein verbissenes und doch frohes „Trotzdem“ und „Jetzt erst recht“ als Antwort an die herausfordernden Zumutungen aus dem Norden. Damals galt die Parole: Rückzug auf sich selbst, einigeln gegen die Bedrohung von außen.

1964: über sich selbst hinauswachsen

Im Jahre 1964 steht das Schweizervolk und mit ihm die Landesausstellung vor einer völlig veränderten, ja in gewissem Sinn geradezu konträren Ausgangslage: Weltoffenheit und Weltweite, Aufgeschlossenheit über die Grenzen hinaus, nicht Rückzug ins eigene Haus und „Reduit“ heißt die Parole. Die Schweiz sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Isolierung zu überwinden, ohne sich selber untreu zu werden. Eine junge, im technischen Zeitalter groß gewordene Generation drängt allenthalben in die Führungspositionen, und diese Generation richtet ihren Blick mehr auf das Kommende als auf das nationale Erbgut, mehr auf die Dinge in der nahen und weiten Umwelt als auf die kleinen und oft kleinlichen Sorgen des eigenen Landes. Max Frisch mit seinem Appell, die Einkapselung in die selbstgerechte Existenz des Kleinstaatlers und Neutralen zu überwinden und über schweizerische Selbstzufriedenheit hinauszustreben, findet bei dieser Generation mehr Anklang als die Berufung auf die Mustergültigkeit der eidgenössischen Traditionen und Prinzipien.

Abschied von der Selbstgerechtiekeit

licht, daß man diese leugnen oder um alten Eisen werfen möchte, ber man findet, die Schweiz habe ich allzu lang in ihrer Selbst-;erechtigkeit gefallen und dadurch ien Anschluß an die atemraubenden Intwicklungen des Atomzeitalters 'erloren. Es gelte, diesen Anschluß n einer großen gemeinsamen An-trengung zurückzugewinnen. Zu liesem Zweck müsse sich die Schweiz mehr als bisher den Ein-lüssen der Umwelt öffnen. Es gelte, len Heimat- und Landistil zu iberwinden und Lebens- und Denk-

formen zu entwickeln, die der heutigen Lage angemessen und der Zukunft gewachsen sind.

Begegnung der welschen mit der alemannischen Schweiz

Dieser Geist, der in der welschen Schweiz spürbarer und ungenierter am Werk ist als in der alemannischen, hat die Expo 64 mitgeprägt. Sie ist, wiewohl Menschen und Kräfte aus allen Landesteilen an ihrem Aufbau beteiligt waren, in ihrem Grundzug doch irgendwie eine Manifestation welschen Geistes

und welscher Fortschrittsgläubigkeit, gepaart allerdings mit deutschschweizerischer Nüchternheit — und darin vielleicht eine Synthese, in der nicht nur der Zeitgeist der sechziger Jahre zum Ausdruck kommt, sondern auch das fruchtbare Miteinander zweier so verschiedener Volksschläge wie des alemannischen und des romanischen, die sich nun während eines halben Jahres in der Expo täglich von Angesicht zu Angesicht begegnen. Im Verzicht auf jeglichen Schützenfeststil und jede zwar farbenfrohe und rührende, aber heute doch irgendwie museal wirkende Folklore ist die Expo aber auch ein mutiges Ja zu kompromißlos modernen Ausdrucksformen, die dem Gemüthaften kaum Raum und Recht zugestehen. Die Gestalter der Expo haben selber als eines der großen Ziele der Ausstellung, die eine Art futuristisches Selbstporträt der Schweiz sein möchte, genannt: „Im Heute den Umriß der Zukunft enthüllen.“

Man kann sich fragen, ob sie im Bestreben, ein wesenhaft aus seiner

Geschichte und mit seiner Vergangenheit lebendes Volk auf die Welt „draußen“ und die künftigen Dinge und Perspektiven zu lenken, zwar nicht dem Inhalt nach, wohl aber in der kompromißlosen Formgebung zu weit gegangen seien; denn vieles wirkt an dieser Ausstellung krampfhaft modern, vieles reichlich abstrakt und intellektualistisch. Die Expo spricht zwar den Verstand an, sie zwingt immer wieder zum Nachdenken über die schweizerische Situation, sie fordert zu Antworten auf Anregungen heraus, aber sie läßt das Herz kühl; sie läßt alle Gemüts- und Gefühlswerte konsequent links liegen, weil sie bewußt alle Konzessionen an einen Stil vermeiden will, dem man im Land der Jodler und Ländler vielleicht zu lange und zu ausgiebig gefrönt und der es erlaubt hat, der Auseinandersetzung mit neuen Stilelementen und dem Wagnis zeitgerechter Gestaltung aus dem Weg zu gehen. Die Expo geht dieser Aufgabe nicht nur nicht aus dem Weg, sie hat sich vielmehr mit einem wahren Enthusiasmus in sie gestürzt — und dabei nebst offensichtlich danebengelungenen intellektuellen Spielereien doch auch manche treffende, zeitgerechte, pointierte und zukunftsweisende Aussagen fertig gebracht.

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