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Ende einer Epoche

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SOMMER 1914 und EPILOG. Roman. Von Roger Martin du Gard. Aus dem Französischen übersetzt von Fritz Lehner. Paul-Zsolnay-Verlag, Hamburg-Wien, 1961. 1007 Seiten. Preis 23 DM.

Mit „Sommer 1914“ und „Epilog“ beendete Roger Martin du Gard 1936 seinen großen Romanzyklus „Les Thibault“, in dem er — ein französisches Gegenstück zu den Buddenbrooks — an der Geschichte einer Familie die Auflösungserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg in weltanschaulicher, kultureller, politischer und sozialer Hinsicht darstellte. 1937 wurde ihm für sein monumentales Werk, dessen künstlerischen Höhepunkt „Sommer 1914“ bildet, der Nobelpreis verliehen.

Das Großartigste an dieser gewaltigen Bestandsaufnahme der weltpolitischen Ereignisse vom 28. Juni bis zum 10. August 1914 ist, daß hier das internationale Drama einerseits vom Blickpunkt der handelnden Mächte gesehen wird, die ihre Untertanen skrupellos für ihre politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Interessen einsetzen und opfem, diese anderseits aber als leidende, mißbrauchte Individuen erscheinen, deren Leben der Krieg, wenn nicht auslöscht, so doch grundlegend verwandelt und oft von Innen her zerstört.

Die Auseinandersetzung mit den Phänomenen Krieg und Frieden zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Da ist Jacques Thibault, der Apostel einer neuen Welt der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit, die er im Dienst der internationalen sozialistischen Bewegung verwirklichen zu helfen glaubt und für die er, nach dem Versagen seiner Bewegung im entscheidenden Augenblick, sein Leben opfert. Da sind die Gruppen, die zwischen dem „gerechten“ eigenen und dem „ungerechten“ Krieg der anderen unterscheiden und aus dieser Haltung die leichte Beute jeder einigermaßen geschickten Propaganda werden. Und da sind schließlich jene Kreise, die so beredt von Vaterland und Ehre, von Tapferkeit und Mannesmut zu sprechen wissen und hinter solchen Schlagworten, bewußt oder un-bewult, nicht selten eigennützige Interessen verstecken.

Nein, es hat sich wenig geändert in unserer Welt, die schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege scheinen umsonst gewesen zu sein! Das Spiel und Gegen-sp.e' der Völker, besser ihrer Regierungen, geht seinen alten Gang, und der einzelne scheint machtlos. Und doch sind wir aufgerufen, unseren eigenen, ganz persön-

lichen Einsatz zu leisten, bevor es zu spät ist, bevor uns dieses Spiel verschlingt. Mit dem ersten Weltkrieg ging eine Epoche zu Ende, und mit ihr fielen die alten Ordnungen und Wertmaßstäbe. Von unserer Bewährung oder unserem Versagen aber könnte die Existenz der Menschheit schlechthin abhängen.

Zu solchen Überlegungen regt die Lektüre dieses Buches an. Sie löst Trauer und manchmal Verzweiflung aus, aber auch den Willen, nicht aufzugeben, „herauszubekommen, was falsch ist“, wie es der alte Arzt Philip formuliert. Und schließt das nicht die Bemühung in sich, das Falsche ins Lot zu bringen?

Wir haben hier nur die eine, die politische Seite des großen Romans von Martin du Gard ins Blickfeld gerückt. Mit der gleichen künstlerischen Kraft und Wahrheit weiß er aber auch persönliche Schicksale, die zeitlosen menschlichen Probleme zu gestalten: Glück und Schmerz der Liebe, Angst und Einsamkeit, den Rausch der Begegnung, die Hingabe an große Ziele, die Bewährung im Alltag, die Auseinandersetzung mit dem Tod. Kurz, die ganze Fülle lebendigen Daseins, seine lichten und seine dunklen Seiten, ist in diesem Epos dargestellt.

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