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Karl May heute

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In seiner Schilderung jener Epoche deutschen Geisteslebens, die ein anderer Literaturhistoriker treffend den „Kampf um die Tradition“ genannt hatte, bemerkte Josef Nadler: Zöge man vom Deutschen der achtziger Jahre Richard Wagner und Nietzsche ab, bliebe Karl May. Wie steht es mit diesem Vielgenannten, Wohlbekannten, Vielgehaßten, Heißgeliebten, den man Unter den Linden zu grüßen sich scheute und dem man dennoch zu Hause gerne begegnete, auf daß er Spannung und Entspannung gewähre? Wie steht es um ihn heute, im Zeitalter des Kampfes gegen die Tradition?

Karl May ist allmählich und unmerklich In die Reihe der Schriftsteller gerückt, die nicht mehr als Gestalter einer, wenn auch imaginären, so zeitgenössischen Welt empfunden werden; er ist zum Zeugen einer Vergangenheit geworden und er hat sich als dieser in seiner Geltung behauptet. Damit aber scheint uns der Streit um seine literarische, um seine kulturgeschichtliche Bedeutung entschieden. Wer immer an Meistgelesenen zwei Generationen überdauert, ohne daß seine Bücher zu unbeachteten Schmökern würden, der gehört nicht auf den Schutthaufen. Er beweist, daß er von Anfang an etwas in sich gehabt haben muß. Dies gilt von Eugene Sue oder von Alexandre Dumas ebenso wie von Karl May. Derlei Einsicht ist zunächst aus seinem Verhältnis zur heutigen Welt zu gewinnen.

Gleich darauf folgt Klarheit darüber, in •wie hohem Grade er völkerpsychologisches Material bietet, und zwar, als echte Quelle, um so überzeugender, je weniger er die Absicht hatte, nationale Seelenkunde zu lehren. Nicht als ob der Schöpfer Winnetous und Hadschi Halef Omars Wesentliches über Indianer und Araber auszusagen hätte. Das entnimmt man besser den Schriften der Forschungsreisenden und der anderen Gelehrten, die wirklich im Wilden Westen und im Nahen Osten viele Jahre zubrachten, und aus deren Werken May, beinahe stets mit Geschick, mitunter freilich mit dem naiven Ungeschick des Autodidakten, schöpfte. Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi sind nicht unfehlbar, wenn sie einmal aus den verkommenen Apachen Edelmenschen machen, ein anderes Mal einen Skipetaren serbisch reden lassen. Doch Karl May ist unfehlbar, wenn er uns durch das Prisma seiner Werke den deutschen Bürger des Zeitalters Bismarcks und Wilhelms II. betrachten läßt; wenn er Denken und Fühlen, die Ideale und die Widerideale einer Epoche spiegelt.

Diese Konstruktion erschauen wir zuvorderst nicht in den Romanen aus der Neuen Welt oder aus dem Orient — obzwar auch dort, etwa in „Weihnacht“, in „Satan und Ischariot“, deutliche Spuren anzutreffen sind —, sondern in den Volkserzählungen des frühen Karl May und in den Kolportagegeschichten, die der Verleger in Radebeul mit Fug der Vergessenheit entrissen hat. Denn diese grobkörnigen Reißer, in. denen fabelhaft reiche, fabelhaft schöne, fabelhaft unglückliche, fabelhaft tapfere, fabelhaft starke Helden und Heldinnen in fünf Weltteilen Ormuzds Kampf wider Ahriman und seine häßlichen, boshaften, feigen, grausamen Günstlinge ausfechten; worauf die Tugend triumphiert, nicht ohne daß ein paar sekundäre Edelmenschen ins Gras beißen — diese Epik aus dem Herzen des Volkes und nach dessen Herzen enthält Episoden von eindringlichster satirischer Kraft.

Aufschlußreich sind die Szenen, in denen unser Autor von Leuten aus den mannigfachsten Gcsellschaftsschichten berichtet. Da wird kein wirkliches Gespräch hergesetzt, wie es sich in den damaligen Salons, Bürgerstuben, Bauernhütten oder Arbeiterwohnungen abspielte. May bietet vielmehr eine Art — „Verzeihen Sie das harte Wort“, sagte

Wippchen, sein Zeitgenosse von anno 1880 — von „Gesprächsteller“. So, wie dies schwarz auf weiß gedruckt steht, sollten gemäß der Ansicht des Verfassers die Deutschen miteinander reden. Das heißt, Fürsten drücken sich erhaben aus, Aristokraten geschwollen, Professoren hochgelahrt, Bürger manierlich, daß man förmlich den Plüsch der Möbel in der guten Stube knistern hört, Bauern herzlich und ungeschlacht, Arbeiter unterwürfig, wenn sie brav sind, und unzufrieden aufmuckend nach Art der „Weber“, wie Proletarier bösen Einflüsterungen gehorchen.

Zwiespältig, weiß der zu Geld und trügerischem Ansehen gelangte Sohn bettelarmer Kleinhäusler nicht recht, ob er die Partei seiner neuen Klassegenossen oder die seiner einstigen Schicksalsgefährten ergreifen soll. Er findet für die Lösung der sozialen Frage keinen andern Ausweg als den der Liebe, der Brüderlichkeit, wobei indessen die ärmeren, also dje geringeren Brüder nie vergessen dürfen, was sie den älteren, höher geborenen, höher bemittelten Brüdern schulden. Sich mit der Psychologie Karl Mays vom soziologischen Standpunkt aus zu befassen, ist ein nicht minder reizvolles Problem als die inzwischen gründlich geschehene Untersuchung seiner individuellen Seelcnlage. Auch da, beim dritten Anliegen der heutigen May-Forschung, erfühlen wir das Streben des Autors, die eigenen echten Regungen vor sich selbst und vor der Außenwelt unter einer Maske zu verbergen. So sehr, so tief, daß man zuletzt nicht unterscheidet, was Wahrheit und was Heuchelei, was Wirklichkeit und was Spiel gewesen ist. Doch die unbestreitbare Herzensgüte und ein durch keine Erfahrung zu erschütternder Optimismus überwinden alle Hemmnisse. Einer wärmenden Sonne gleich durchdringen sie die dicke Schicht von Konvention und Phrasen, von Scheinlösungen und Scheinmoral, die über des Dichters Herz und Hirn gelagert ist.

Ein Viertes, jetzt nach den beiden Weltkriegen von besonderem Interesse: May als Zeuge des deutschen Volkes über dessen Beziehungen zu anderen Nationen. Alles, was die furchtbaren Jahre uns dargetan haben, ist bei May vorausgenommen. Wir sehen ihn als Verkünder des Imperialismus, doch auch als Gegner roher Gewalt. Er ist — „Und Friede auf Erden“ — für die Verständigung zwischen den Nationen; er verabscheut den Krieg. Ueber die wichtigsten Nationen hegt er festgeprägte Urteile und Vorurteile.

Mancherlei wäre über Mays stereotype Bilder einzelner Stände und Berufe zu bemerken. Da spukt noch die Abneigung breiter Schichten gegen Beamte, Juristen, Kaufleute, die Hochachtung vor Großgrundherren, die etwas ironische Scheu vor Gelehrten, den Foliantenwälzern, und die tiefe Ehrfurcht vor hohen, höchsten und allerhöchsten Herrschaften.

Zum sechsten, und auch das wird jetzt bei der May-Forschung schärfer berücksichtigt, unseres Autors Sexualhaltung. Liebe ist bei

May eine durchaus schablonenmäßige Angelegenheit, vordringlich „Gartenlaube“ mit ein wenig humoristischem Einschlag aus den „Fliegenden Blättern“. Bei näherem Zusehen machen wir jedoch erstaunliche Entdeckungen. Unter der tugendhaften Tünche erspüren wir eine heiße Lava künstlich und mühsam zurückgedrängter Sinnlichkeit, die keineswegs immer normale Wege wandelt. Er dünkt uns endlich heute der eindringlkhste Wortführer einer Generation, die aus der Enge des physischen und des geistigen, moralischen Raumes hinausstrebte, ein Heer-lufer der „evasion“. Dieser leidenschaftliche Drang in die Ferne, in ein anderes Sein, zuletzt in einen yierdimensionalen, mystischen Kosmos, ist den Zeitgenossen des Schnürmieders, der drahtumwundenen Blumenbuketts und der in einer verhaßten „Heimat“ allzu wohlbehüteten und dennoch schlecht gehüteten Mädchentugend aus dem blutenden Herzen gesprochen.

Wir wissen schließlich, daß auch der Schriftsteller und — wir wagen das zu unterstreichen — der Dichter Karl May nicht mit einer verächtlichen Handbewegung zu erledigen sind. Immer klarer bestätigen sich uns die literarischen Werte eines allzu umfänglichen, ja monströsen Gesamtwerks, das außerliterarischen Beweggründen wenn nicht sein Entstehen, so doch seine Vielbändigkeit verdankte. Es wäre ein arger Fehler, in dieser Urwaldlandschaft die schönen ragenden Bäume vor lauter Wald nicht zu sehen. Dem durch seine Fülle erdrückenden und mitunter bedrückenden Gesamtwerk wird man in Zukunft einzelne Bände entnehmen; man wird Episoden und kleinere Novellen herausholen. Dadurch unterscheidet sich aber May von den mit ihrer Generation versinkenden

Lieblingen der großen Leserscharen. Er wird noch manchen Geschlechtern viel und vielen manches bedeuten. Sein Name ist ein Begriff geworden; seine Zeugenschaft hat historische Kraft errungen; seine literarische Position ist unbestreitbar. Zu dieser Einsicht sind wir heute über einen Mann gelangt, dessen Charakterbild fortan in der Geschichte des deutschen Schrifttums nicht mehr schwanken wird.

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