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Peguys Prosa in deutscher Sprache

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Der Herold-Verlag hat es unternommen, dem deutschsprachigen Publikum die Hauptwerke von Charles Peguy zugänglich zu machen. Zwei dramatische Oratorios sind schon erschienen: „Le Porche du Mystere de la Deuxieme Vertu“ (Das Mysterium * der Hoffnung, 1952) und „Le My9tere de la Charite de Jeanne d'Arc“ (Das Mysterium der Erbarmung, 1954).; Nun ist Anfang 1956 eines der bedeutendsten Prosastücke „Note conjointe“ herausgegeben worden. Dieses Werk besteht bekanntlich aus zwei Essays aus den letzten Monaten der schriftstellerischen Tätigkeit Peguys: der erste, „Anmerkung über Herrn Bergson und seine Philosophie“, war in den „Cahiers de la Quinzaine“ (XV/8. April 1914) erschienen. Der zweite, bei weitem der umfangreichere, der dem Werk seinen Titel gibt, ist die „Beigefügte Anmerkung über Herrn Descartes und die cartesianische Philosophie“. Gerade dieser ist aber eine > eigenartige Meditation über die Bergson-sche Philosophie und war erst nach Peguys Tode, im Jahre 1924, erschienen (Gesamtwerke, Bd. IX, NRF).

Man wird sich vielleicht darüber wundern, daß zwei Abhandlungen über die moderne Philosophie unmittelbar nach der Publikation von zwei rein dichterischen Werken veröffentlicht werden, deren eines dem historischen Drama Jeanne d'Arcs und dessen Niederschlag in der Seele des Dichters gewidmet war, während das andere im Rahmen der religiösen und patriotischen Erlebnisse Peguys unermüdlich die Hymne an die mystische Hoffnung, an die geistige Kindheit und an die mit dem menschlichen Elend untrennbar verbundene Erbarmung Gottes anstimmte. Im Nachklang an diese lyrischen Ergießungen, an diese dramatische Konfession, wie fügen sich Bergson und seine Philosophie in Peguys Welt?

Der Peguy-Kenner weiß aber, daß zwischen Jeanne d'Arc, dem Mädchen Hoffnung und dem Philosophen des „Elan vital“ keine Kluft besteht, daß die drei Gestalten im Schicksal selbst des Menschen und des penkers Peguy organisch verbunden sind. — Im Jahre 1897 verfaßt er seine allererste „Jeanne d'Arc“ (Dezember 1897 in der Revue Socialiste erschienen, 1947 von Hebertot für die Bühne adaptiert, 1955 in -der Comedie Franpise). Bis Dezember 1909 trägt Peguy seine Heldin in seinerSeele, er gestaltet sie um, er vertieft sich in ihr Schicksal, und erst ein paar Wochen vor der Veröffentlichung des „Mystere .de la Charite,. de lesnne d'Arc“ .streicht l er dessen optimistischen, „hoffenden“ Schluß glatt weg und schreibt an seiner Stelle die;60 Seiten des bekannten i.Leidenswegs Christi“ nieder, die den heutigen Abschluß bilden (Cahiers de la Quinzaine, XI/6,16, Jänner 1910). In der Form einer ausgesprochenen Fortsetzung dieser „Jeanne d'Arc“ veröffentlicht Peguy eineinhalb Jähre ■später; im Oktober - 1911, das „Mysterium der Hoffnung“ (französisch: „Les Mysteres de Jeanne d'Arc: II, Le Porche du Mystere de la deuxieme Vertu“). — Während dieser 14 Jahre wird und bleibt Peguy Bergsons Schüler: ein leidenschaftlicher Jünger des jungen Meisters, der von 1897 bis 1900 an der Ecole Normale Superieur* liest, folgt *r dem rasch berühmt gewordenen, umstrittenen Professor an das College de France; jeden Freitag besucht er seine Vorlesungen, und nur die Mobilmachung im August 1914 bereitet diesem Eifer ein Ende. Peguys und Bergsons persönliche Beziehungen sind nicht immer reibungslos gewesen: die treue Anhängerschaft des Schülers blieb aber davon unberührt. Mehr noch: Bergson ist es, der selbst bekräftigt, sein Schüler Peguy habe ihn nicht nur richtig verstanden, sondern mit einem Vorsprung von 20 Jahren die metaphysischen und religiösen Latenzen eines spiritüalistischen Denkens intuitiv erfaßt, das der bejahrte Philosoph -von „Les deux soürces de la Morale et de la Religion“ ausschließlich wegen der antijüdischen Verfolgungen in Frankreich während der deutschen Okkupation nicht in ein offizielles, katholisches; Bekenntnis umwandeln wollte (Revue Europe, Souvenirs' de Madame Favre, Avril 1938. Cf. Delaporte „Peguy“ I, S. 130, Fußnote 3). Die Seelenverwandtschaft von Peguy und Bergson ... : die ganze „Nota conjuncta“ beweist sie und stellt einen kongenialen Niederschlag ihrer gedanklichen Einheit dar.

Der Platz, den Bergson in der Entwicklung des philosophischen Denkens in Frankreich einnimmt, ist schon längst festgelegt worden; seine Indizierung und die allzu strebsamen Anfänge des Neothomismus auf französischem Boden können ihn nicht verrücken. Ein katholischer Berufsphilosoph ist es, der dies am klarsten formuliert hat: „Bergson“, sagt er, „hat dem Determinismus die Tatsache der Freiheit entgegengestellt, dem Monismus das Vorhandensein des Geistes und dem Pantheismus das Faktum der Schöpfung“ (Jacques Chevalier, „Bergson“, S. 34). Eine Philosophie des Geistes, die seither Lavelle, Lesenne und Mounier inspiriert hat; eine Philosophie der Freiheit und der Persönlichkeit, der die christliche Existentialphilosophie mehrere ihrer Hauptpunkte verdankt: kurz gesagt, eine Lehre des Menschen, die der Transzendenz aufgeschlossen, die Abgründe der diesseitigen Problematik nicht verkennt, eine Synthese der Prolegomena, die zur Hoffnung führen, eine Synthese, der Antinomien und des Mysteriums der „Caritas“ in Gott und im Menschen.

Man ersieht also, daß Peguy durch und mit Bergson zu Jeanne d'Arc zurückfand: man kann sogar vielmehr behaupten, daß er sie von 1897 bis 1914 bei seinem philosophischen Werdegang .niemals verlassen hatte. Ist nämlich Peguys Jeanne d'Arc wohl ein Feldherr und eine Französin von echtem Schrot und Korn, eine Heldin aus einer „Legenda aurea“, so ist sie aber auch zutiefst, wie der Idealmensch von Bergson, eine „äme inhabituee“, die alles von neuem in Frage stellt, die die „fertigen Gedanken“ verabscheut, ihrem persönlichen Schicksal unbeirrbar nachgeht und in dem Bewußtsein ihrer eigenen Wahrhaftigkeit ihr Leben aufopfert und stirbt. Sie ist aber auch, gleich Peguy und dem alten Bergson, eine Revolutionärin des Geistigen, eine Abenteurerin des Mythischen, die, im furchtbaren Schraubstock eines rätselhaften, menschlich unlösbaren Schicksals eingeklemmt, dieses noch ruhig hinnimmt, bis zum Ende* erlebt und“ es noch am Rand der Verzweiflung durch die unversiegbare Hoffnung krönt. Heldin und Opfer zugleich der existentiell heroischen, „geschmeidigen Moral“, im Widerstreit mit der Gewohnheit und der billigen „starren Moral“, lassen uns Jeanne d'Arc und Bergson in Begleitung von Peguy „buchstäblich den Christenheitspunkt wiederfinden, den Gesichtspunkt, den Lebens- und Wesenspunkt eines christlichen Daseins. Denn (sie) versetzt uns wieder in die Gefährdung und in die Vergängnis und in jene Bloßheit, die recht eigentlich der Stand des Menschen ist“ (S, 267).

Die „Nota conjuncta“ geht sichtlich über die einfache Optik des Historikers der Philosophie oder über das Interesse eines Peguy-Biographen weit hinaus. Sie stellt seine ganze Weltanschauung dar und den Kern eines Denkens, dessen Einfluß auf die weitere Zukunft noch schwer abzuschätzen ist. Weder einzig und allein mit dem Seelendrama und dem „Mysterium der Caritas“ von Peguy verwachsen, noch auch eine vergängliche Momentaufnahme des französischen Geisteslebens, besitzt sie einen internationalen und zeitlosen Wert. Die Entwicklung des deutschen philosophischen Denkens und der deutschen Seele hat zweifellos seit 1900 andere Wege betreten, einen anderen Rhythmus besessen. Die übersprudelnde Geistigkeit der menschlichen, christlichen Peguyischen „Inkarnatio“ verleiht der Aussage dieses „ewig Suchenden“ eine immerwährende und weltumfassende Aktualität.

Es ist das große Verdienst des Verlages Herold, dem deutschsprachigen Publikum den Zugang zif diesem echt christlichen Urquell ermöglicht zu haben. Die „Nota conjuncta“ ist freilich keine immer leichte Lektüre: die Anstrengung aber wird überreich belohnt, denn der aufmerksame Leser wird darin „ein Christentum finden, das im Kern das einer rechten Pfarrgemeinde ist (ein kerngesundes Christentum). Ohne jeden asketischen Fanatismus. Ohne alle Auswüchse ... (eine) ungeheure Güte und. eine vertiefte Zärtlichkeit“ ($. 169), eine Aussage, in der, wie bei Corneilles Polyeukt, „die Gnade sich zu ihrer vollen Höhe über die Natur erhebt, ohne daß die Natur betrügerischerweise erniedrigt würde“ (S. 168). .

Die Uebersetzung von Friedhelm Kemp ist durchaus zuverlässig, das heißt die Gedankengänge Peguys werden vollkommen getreu übertragen. Der deutschsprachige Leser wird, besser als der unterzeichnete Rezensent, über die Wiedergabe des lyrischen, rhythmischen Schwungs der peguyischen Prosa in der deutscheu Uebertragung urteilen können.

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