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Erinnerung an Peguy

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Sieht man von dem 90jährigen Dichter Andre Spire ab, so haben nun sämtliche Überlebenden aus dem ersten engen Kreis um Charles Peguy oder von denen, die ihn um die Jahrhundertwende unmittelbar gekannt haben, die Chronik ihrer Erinnerungen veröffentlicht. Es seien hier, in ihrer chronologischen Folge, alle diese Memoirenwerke verzeichnet:

J. et J. Tharaud: Notre eher Peguy, 1925. — J. Lotte: Lettres et entretiens, 1927 (Neuauflage,1954). — G. Favre: Souvenirs, 1938. — Daniel Halevy: Charles Peguy et les Cahiers de la Quin-zaine, 1940. — R. Roland: Peguy, 1940. — Ra'issa Maritain: Les grandes amities, 1949. — M. Reclus: Le Peguy que j'ai connu (1905/1914), 1951. — Fei. Challaye: Peguy socialiste, 1954. — Madame Simone (Pauline Benda): Sous de nouveaux soleils, 1957.

Jules Isaac, heute 83 lahre alt, ist eine Persönlichkeit, die für alle französischen Akademiker beziehungsweise Mittelschüler und Studenten ein Begriff ist: hat er doch das Handbuch der Geschichte (in acht Bänden) verfaßt, das in beinahe sämtlichen Mittelschulen Frankreichs in Gebrauch steht. Von Beruf Historiker, legt er also über Peguy, und zwar über den Peguy aus den lahren 1892 bis 1902, ein besonders wertvolles Zeugnis ab. Man findet zwar in' seinen Ausführungen keine biographische oder gedankliche Sensation, es sei denn der, ihm zufolge, äußerst gespannte Zustand vermerkt, der Peguys Beziehungen mit seiner Mutter-charakterisiert hat. die seine Heirat mit Charlotte Baudoin mißbilligte und Ihrem Sohn' nicht verzeihen wollte, seine akademische Laufbahn aufgegeben zu haben (SS. 156 bis 160). Isaac weigert sich aber, vom persönlichen Liebesdrama, dem wir die meisten „Quatrains“ und einen Teil von Peguys geistiger Problematik verdanken, den Schleier der Diskretion zu lüften (S. 130). Der kritische Beitrag von Isaac bleibt jedoch aufschlußreich: Will man nämlich heute Peguys Studienjahre in Lakanal oder Louis-le Grand beschreiben oder noch die Gründung der „Cahiers de la Quinzaine“, nach dem Abbruch seiner Beziehungen zum sozialistischen Hauptquartier in der Ecole Normale Superieure, ausführlich rekonstruieren, dann wird es unerläßlich sein, die Dokumente zu benützen, die Isaac zum ersten Male veröffentlicht, um seinen Erinnerungen das sachliche Rückgrat zu verleihen. Isaacs Ausführungen sollen gleichfalls berücksichtigt werden, um die manchmal romanhafte Darstellung der Brüder Tharaud (SS. 337 bis 344) oder die Unrichtigkeiten von D. Halevy zu korrigieren oder noch die tendenziösen Auslegungen von Marcel Peguy (Destin de Peguy, 1942) sowie dessen lückenhafte und sooft unkritische Ausgabe der Prosawerke in der Sammlung „La Pleiade“ (SS. 326 bis 334).

Der Titel selbst von Isaacs Buch deutet übrigens auf seinen tieferen Sinn hin und kennzeichnet seine wahre Atmosphäre: „Experiences de ma vie: Peguy“ (Erlebnisse aus meinem Leben: Peguy). Es ist eben das immer noch frische Erlebnis eines 15jährigen Gymnasiasten, der im Lycee Lakanal 1892/93 den schon führenden Geist des „cagneux“ Peguy tief bewundert; dann das Erlebnis des Studenten an der Sorbonne, der von 1897 bis 1902 Peguys Waffenbruder ist bei den „Schlachten“ der „Dreyfus-Affäre“ und Anno 1899 beim Kongreß der Sozialistischen Internationale in Paris. Ein einmaliges Erlebnis ist es, das sich ganz selbstverständlich zum Bekenntnis gestaltet und von der strahlenden Persönlichkeit eines „Propheten“ Zeugnis ablegt, dessen sozialistisches Ideal, von evangelischer Mystik durchdrungen, nach sozialer Gerechtigkeit zum Himmel schreit und, sich selbst vollkommen vergessend, auf materielle Vorteile gänzlich verzichtend, die Feindschaft seiner ehemaligen sozialistischen Freunde auf sich nimmt, um sich selbst bei allen Wandlungen seines geistigen Weges treuzubleiben.

Mit dem lahre 1902 schließt zwar Isaac das Buch seiner Erinnerungen, zu einer Zeit also, in der Peguy zu seinem katholischen Kinderglauben noch nicht zurückgefunden hat. Um so mehr wird man die Objektivität des Urteils zu schätzen wissen, das der Autor, selbst ein alter Sozialist jüdischer Abstammung, über das Werk seines „Chefs“ folgendermaßen formuliert: „Die Größe von Peguys christlichen Werken kann man nicht bestreiten: sie verdient mit den höchsten Gipfeln verglichen zu werden, die der Mensch auf seinem Weg zu Gott je erreicht hat. Dies ist aber kein Grund, Peguys vorchristliche Werke zu ignorieren, die auch ihre Schönheit und ihre Größe besitzen, zumal das Religiösein ihnen schon mehr oder weniger deutlich hervortritt. Sie sind sozusagen das .Portal zum Mysterium' von Peguys schöpferischem Genie“ (S. 335). Nichts besser als diese Würdigung kann die Bedeutung und die immerwährende Aktualität eines Mannes und eines Schaffens unterstreichen, für die jenseits konfessioneller Schranken oder lähmender politischer Zugehörigkeiten die einfach „menschliche Stunde“ endlich zu schlagen im Begriff ist.

Andre Espi au de La Macs tr e

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