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Schlechter Titel, interessantes Buch

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DIE BALKANISIERUNG ÖSTERREICHS. Folgen einer großen Koalition. Von Alexander Vodopivec. Verlag Fritz Molden Wien — München, 405 Seiten, 170 S.

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DIE BALKANISIERUNG ÖSTERREICHS. Folgen einer großen Koalition. Von Alexander Vodopivec. Verlag Fritz Molden Wien — München, 405 Seiten, 170 S.

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„Thema verfehlt“ pflegten unsere Lehrer mit roter Tinte in unsere Schularbeitshefte zu schreiben, wenn der Gedankenflug uns zu weit von dem nach der Überschrift zu erwartenden Inhalt abgetrieben hatte. Bei Vodopivec’ neuem Buch ist es umgekehrt. „Titel verfehlt“ möchte der Kritiker gerne anmerken. Nach dem Titel zu schließen, wäre nämlich eine politische Räuberpistole zu erwarten gewesen.

Der deutlich auf den durch die „Spiegel“-Story präparierten deutschen Lesermarkt abgestimmte Untertitel „Folgen einer großen Koalition“ könnten die Unlustgefühle gegen diese Art von masochistischer österreichischer Selbstdarstellung nur vertiefen. Doch zum Glück kennt man seinen Vodopivec. Den Journalisten, den politischen Schriftsteller, den Kollegen. Mag er auch nach dem Geschmack des Rezensenten gemeinsam mit seinem Verleger in diesem Fall einige Weihrauchkörner zuviel auf den Altar moderner Publicity geopfert haben, man verzeiht es ihm, sobald man das Buch zu lesen begonnen halt.

Denn auch der „neue Vodopivec“ ist nicht nur ein Beitrag zur leider so dürftigen politischen österreichischen Gegenwartliteratur. Es ist auch eine interessante, persönlich interpretierte und pointierte Darstellung der letzten zehn Jahre österreichischer Geschichte. Das „Heldenzeitalter“ der Koalition ist vorüber, wenn Vodopivec mit seiner Untersuchung ansetzt. Das „Jahrzehnt der Desintegration“ beginnt. Es liefert dem Verfasser Material genug zu klugen Analysen und zu bissigen Kommentaren.“ Die Massengesellschaft entwickelt in allen Ländern ihre Probleme. In West und Ost. Bleiben wir beim Westen. Wenn heute in der Bundesrepublik Deutschland ein gewisser Lobbismus die klassische Demokratie tagtäglich aushöhlt, im Frankreich de Gaulles verschiedene miteinander rivalisierende Geheimdienste ihre Gegensätze vor aller Welt austragen, in den Vereinigten Staaten sogar ein Präsident abgeknallt werden konnte, ohne daß die letzten düsteren Hintergründe dieser Tat je ans Licht kommen dürften, so mutet unsere wahrhaftig in den letzten Jahren nicht gerade erquickliche Innenpolitik doch direkt „idyllisch“ an. Es ist schon so, Freund Vodopivec: Der Balkan — wenn man unbedingt bei diesem Wort bleiben will — erstreckt sich heute bis zum Mississippi.

Wozu aber Schlagworte, wenn man das Rüstzeug zu nüchternen Analysen besitzt. Und dafür bleibt der Autor den Beweis nidht schuldig, gleichgültig, ob er den Strukturwandel in den beiden großen Parteien untersucht, das Problem Bundeslän der und Wien aufs Korn nimmt oder unter anderem sich mit unserer „Schönwetterneutralität“ befaßt. Sein Talent kommt jedoch besonders in den Kapiteln, die sich mit der Verflechtung von Staat und Wirtschaft befassen, zum Tragen. Hier hat er ais Wirtschafts journalist besondere Milieukentnisse.

Vodopivec ist ein Liberaler. Ohne Vorsilbe und Beifügung. Als solcher geißelt er den „entideologisierten Ständestaat“, als der sich Österreich nach 20 Jahren großer Koalition darbietet. Wer in den Traditionen des sozialen Katholizismus steht, wird ein solches Verdammungsurteil nicht kritiklos annehmen können. Auch drängt sich ihm wieder einmal eine alte Erfahrung auf. Merkwürdige Liberale! Gebannt den Blick auf ihre Angstgegner, die Marxisten, gerichtet, merken sie gar nicht, wie sie mitunter diesen spiegelgleich werden. „Das Sein bestimmt das Bewußtsein.“ Marx’s Zitat scheint auch für den Verfasser bindend. Er sieht nämlich alles nur unter wirtschaftlichen Aspekten. Nicht zuletzt erwartet er ja auch von einer Verbindung Österreichs mit der EWG eine Änderung eben jenes „Bewußtseins“, das für ihn Ausdruck des vielstrapazierten Wortes „Balkanisierung“ ist. Damit ist auch schon gesagt, daß man in seinem Buch vergeblich nach Kapiteln Ausschau halten wird, die vom Ringen der Ideen in und um dieses Land, beziehungsweise von Ihrer Umleitung um Österreich herum handeln. Allein: Österreich hatte auch im letzten Jahrzehnt nicht nur eine Wirtschafts-, sondern auch eine Geistesgeschichte. So ist es vielleicht bezeichnend, daß die Entwicklungstendenzen im österreichischen Katholizismus, die ja auch nicht ohne Folgen auf die Politik blieben, in dem vorliegenden Buch überhaupt keinen Niederschlag finden. Oder paßte eine Kirche, die mutig Neuland betritt, was sowohl im Westen als auch im Osten mit nicht geringem Interesse verfolgt wird, nicht ganz in das Bild der „Balkanisierung“ dieses Landes?

Dennoch und trotz manchem Widerspruch: ein interessantes Buch. Möge es der Belebung der politischen Diskussion in Österreich dienen.

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