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Spiel in Kassel

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Wer in diesen Tagen Bonns Rheinpromenade zu einem Meinungsanstausch ohne gebührende Achtung für den hereinbrechenden Frühling mißbraucht und die europäische Aufmerksamkeit, die sich nach Kassel orientiert, einem analysierenden Studium unterzieht, kann sich den düsteren Wolken nicht entziehen, die Bundeskanzler Willy Brandt schon am 20. März beschworen hat.

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Wer in diesen Tagen Bonns Rheinpromenade zu einem Meinungsanstausch ohne gebührende Achtung für den hereinbrechenden Frühling mißbraucht und die europäische Aufmerksamkeit, die sich nach Kassel orientiert, einem analysierenden Studium unterzieht, kann sich den düsteren Wolken nicht entziehen, die Bundeskanzler Willy Brandt schon am 20. März beschworen hat.

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Denn in den politischen Fanfarenstoß, der auf der Grundlage des atlantischen Bündnisses und der Freundschaft mit den bundesrepublikanischen Verbündeten bessere Beziehungen zur nun nicht mehr „sogenannten“ DDR vermeldet, mischt sich der dumpfe Trommelwirbel amerikanischer, französischer und — man vermerke es wohl — sowjetrussischer Bedenken. Wird doch das Präsidentenpalais im Schatten des Eiffelturms nicht erst seit dem makabren Erfurter Rendezvous vom Gedanken der möglichen vereinigten deutschen Wirtschaftsmacht geplagt, die da aus der Addition von westlichdeutschem Industriepotential und östlich-wuchtigen Wirtschaftskombinaten wie ein kontinental-ökonomischer Alptraum Frankreich bedrängt oder zur Stunde „X“ bedrängen könnte. Gewiß erblicken Pompidous Nationalwirtstihaftsbosse in der US-Herausforderung ein Übel, doch käme man — so prophezeien Bonner Paris-Emissäre — mitunter nach einem zweiten oder dritten Kassel vom amerikanischen Regen in die zentralgermanische Traufe.

In den Vereinigten Staaten hingegen dürfte eine Realisierung der brisanten außenpolitischen Laborexperimente des Illusionisten am Bonner Kanzlerstuhl dem schleichenden US-Neoisolationismus zuzüglichen Aufwind geben. Kann sich doch das Weiße Haus, vor allem aber das strategisch kalkulierende Pentagon, angesichts der kommenden Kasseler deutsch-deutschen Kamingespräche nicht der heimlichen Ängste erwehren, daß Kompromisse der Bundesrepublik mit Pankow und also mit dem Kreml nur zu leicht zu einer irgendwie ausartenden Hegemonie Rußlands über Gesamtdeutschland und damit — man täusche sich nicht — über den europäischen Kontinent führen könnten. Die Vorherrschaft der UdSSR würde aber für Amerika eine äußerst gefährdende weltpolitische Kräfteverschiebung bewirken; eine Prognose, die offensichtlich auch die Regierung Ihrer Majestät lieber unbestätigt wissen will, so man die jüngsten Bedenken seitens des britischen Verteidigungsministers in Rechnung stellt. Erhebliche Spannungen der Rhein-Strategen gegenüber den Verbündeten in nah und fern blieben unausweichlich. Ist man in den Staaten morgen auf Nixon wegen des Wirbels in der Welt, zu der Europa noch immer zählt, böse, so wird man es den Deutschen anlasten. Denn die betonten und forcierten bundesdeutschen Initiativen gegenüber Stoph und Breschnjew werden auch im NATO-Raum das Trauma von dem kriegerischen und gar nicht netten deutschen Michel zu neuem Spukdasein erwecken, dessen Schatten bis weit in die von Hitler-Deutschland verbrannte Erde der Ukraine und auf das neuerbaute Stalin-, sprich Wolgograd, hinüberreichen.

Unter dieser Perspektive nimmt auch das Modell eines etwa unter rotem Vorzeichen zusammengefügten sozialistisch-deutschen Einheitsreiches für Moskau an Fragwürdigkeit zu, weil es zeitgeschichtliches Unbehagen, just fünfundzwanzig Jahre nach dem Siege stiftet. Denn deutsche Wirtschaft und „deutscher Militarismus“ (im Sprachgebrauch der ,.Sowjetenzyklopädie“ verstanden) formieren sich in den Gehirnen kommunistischer Europaexperten zu einem bedrohlichen „Gottseibeiuns“ in atheistischer Variante. Ein Indiz für die timide russische Sicht dürfte das Bestreben der Außenpolitik der neuen Zaren sein, rasch und auch ohne vom Westen postulierte „gründliche Vorbereitung“ zu einer Europäischen Sicherheitskonferenz zu kommen. Rußland meditiert heute über Ohina. Und dann kommt lange nichts, und dann denkt der Kreml neuerdings über Pekings Zukunftspläne nach, die nur dann zu durchkreuzen sind, wenn ein „gesichertes europäisches Hinterland“ dem Sowjetreich zu Diensten steht. Darin aber liegt das russische Dilemma, das in Kassel mit dabei ist: einerseits wünscht der Kreml ein disponibles Vorfeld von der Seine, zumindest aber vom Rhein bis Warschau. Anderseits bleibt Deutschlands Blitzkrieg vor drei Jahrzehnten für Moskau der Schock des 20. Jahrhunderts. Wie immer in Kassel Trinksprüche beim brüderlichen Bankett zu formulieren sind: ohne Zweifel werden unsichtbar die Repräsentanten der Großmächte bei diesem Spiel der Worte und der Toaste mit dabei sein. Sind doch die beiden Deutschland in ihrem Europa-Schach Königsfiguren, die nicht mattgesetzt werden dürfen.

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