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Die Zeit im Spiegel der Literatur

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ZEICHEN DER ZEIT. Ein deutsches Lesebuch. Band 3 und 2. Fischer-Bücherei. Frankfurt am Main und Hamburg. 376 und 354 Seiten. Preis je Band 3.30 DM.

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ZEICHEN DER ZEIT. Ein deutsches Lesebuch. Band 3 und 2. Fischer-Bücherei. Frankfurt am Main und Hamburg. 376 und 354 Seiten. Preis je Band 3.30 DM.

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Von dem in vier Bänden geplanten „deutschen Lesebuch” war der früher erschienene 4. Band dem Zeitabschnitt von 1880 bis 1945 gewidmet. Der 3. Band umfaßt ein halbes Jahrhundert deutscher Literatur, von 1832 bis 1880, also von Goethes Tod bis etwa zum Naturalismus. Das Vorwort des Herausgebers Walther Killy deutet die wesentlichsten geistigen Spannungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Dem geistigen und künstlerischen Erbe der Klassik und Romantik wirken die Ideen des Sozialismus und die vom Fortschritt der Naturwissenschaften bestimmten neuen Bildungsbestrebungen entgegen. Noch ist die Tradition lebendig, noch sind die „Epigonen” zahlreich, doch schon ist das Neue am Werk. „Einem jeden ,noch’ setzt sich ein .schon’ entgegen”, schreibt der Herausgeber. Es ist eine Zeit des Übergangs, und Übergangsstimmung beherrscht vielfach die Geister. Die Gefahren, welche diese Wende heraufbeschwor, wurden von den Dichtern nicht übersehen. „Es gibt kein Omen, das Deutschlands Dichter nicht ahnungsvoll wahrgenommen hätten, und wenn sie es nur in der Form des Scherzes oder der Ironie anzeigten.” Ein neues Geschichtsbewußtsein bildete sich, die Historie hielt auch die Dichter, nicht nur die Gelehrten, in ihrem Bann, es blühte die Geschichtsschreibung. aber -ebenso die historische Belletristik, mit großen Unterschieden des literarischen Niveaus, von Stifters „Wi- tiko” bis herab zum „Professorenroman”. Die Literatur spiegelt getreu die geistigen Ereignisse dieses so bedeutsamen Jahrhunderts.

Die Auswahl wird in neun Themenkreisen geboten: Epoche; Tages- und Lebenszeiten; Historie; Freiheit; Wissenschaft; Künste; Biedermeier; Wanderungen; Letzte Dinge. Daß eine solche Gliederung imtner problematisch bleibt, liegt auf der Hand. Alle bedeutenden deutschen Dichter der Zeit von 1832 bis 1880, aber auch einige Geschichtsschreiber, Philosophen, Naturwissenschaftler und Politiker sind mit bezeichnenden Proben aus ihren Werken vertreten. So kommen unter anderen Ranke, Mommsen, Hegel, Schopenhauer, Du Bois-Reymond, Brehm, Marx und Bismarck zu Wort. Mit Recht wurden auch kleinere Geister zitiert, so- ferne sie Charakteristisches zu sagen hatten. Das Vorwort des Herausgebers hätte mehr auf einzelne Richtungen der Literatur eingehen sollen.

Die hohe Zeit der deutschen Literatur, die Klassik, wird uns im 2. Band (1786 bis 1832) nahegebracht. Es sind Jahrzehnte, deren geistiges Leben nach den

Worten des Herausgebers der Nachwelt „unermeßlich” scheint. Unter den Bezeichnungen „Klassik” und „Romantik” verstand man später zwei gegensätzliche Richtungen und verlor so das beiden Gemeinsame aus dem Blick. Der Begriff „klassisch” wurde zu sehr eingeengt. Der Herausgeber will in der Vielfalt der Gegenstände und Formen, die diese so überaus fruchtbare Epoche hervorgebracht hat, die tiefere Einheit zeigen und einer allzu schematischen Aufspaltung entgegenwirken. Wenn auch in der Literatur dieser Zeit viele Züge der modernen Welt vorgebildet sind, lebte damals doch noch die Überzeugung von der „Einheit des Welt- ganzen”, war das Humanitätsideal noch mächtig.

Die einzelnen Teile der Sammlung werden unter anderem durch die Titel „Gemeinwesen”, „Humanität”, „Tradition und Bildung”, „Goethe—Schiller”, „Natur und Kunst”, „Mythos und Sprache” charakterisiert. Die Schwierigkeit, eine Anthologie aus der Literatur dieses Zeitalters zu bieten, ist nicht gering, denn „durch kein Zauberwort läßt sich die Fülle solchen Geisteslebens auf Flaschen ziehen” (Killy). Doch ein eindrucksvoller Extrakt des Wesentlichen wurde erreicht, der Leser erhält die nötige Wegweisung. Der Standpunkt des Herausgebers, keine Bruchstücke aus dramatischen Werken s bringen, hat wohl eine gewisse Berechtigung, doch wären einzelne, für die geistige Situation besonders markante Stellen am Platz gewesen. Daß aufschlußreiche, aber wenig bekannte und schwer erreichbare Texte aufgenommen wurden, ist kein geringer Vorzug dieser Sammlung.

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