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Alte Gefühle, neu maskiert

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Linke Antisemiten, die ihren Marx gelesen haben, können Juden nicht leiden, weil sie Kapitalisten, Ausbeuter und Unternehmer sind. Rechte Antisemiten, die sich auf Dühring, Stoecker oder Marr berufen, hassen Juden, weil sie Revolutionäre, Sozialisten und Skeptiker sind, Träger des zersetzenden Geistes, eine Gefahr für das Abendland, die Moral und das freie Unternehmertum. Gläubige Menschen mögen Juden nicht, weil viele Juden Ketzer und überzeugte Atheisten sind. Freigeister nehmen es den Juden übel, daß sie immer noch an ihrem alten Glauben festhalten. Feministinnen, die keine Zeile von Thomas von Aquin oder Franz von Assisi gelesen haben, sind über die notorische Frauenfeindlichkeit des Judentums voll im Bilde. Tierschützer und Vegetarier regen sich über das koschere Schächten der Tiere auf. Internationalisten machen Juden zum Vorwurf, daß sie einen eigenen Staat gegründet haben, und Nationalisten bemängeln, daß noch nicht alle Juden geschlossen hingezogen sind.

So richtig es ist, daß jeder jeden und alles kritisieren darf, so berechtigt und nötig ist es auch, nach den Motiven der Kritiker zu fragen und auch danach, warum bestimmte Ereignisse ihren Widerspruch herausfordern und andere nicht, worin also das stimulierende Moment liegt, auf das der Anstoßnehmer reagiert wie der Pawlowsche Kund auf die Klingel. Warum haben große Teile der deutschen Öffentlichkeit, vor allem der linken Öffentlichkeit, den Krieg im Libanon erst in dem Moment zur Kenntnis genommen, als

Israel den verhängnisvollen Fehler beging, im Libanon einzumarschieren? Warum ist denjenigen, die Sabra und Schatilla in einem Atemzug mit Oradour und Lidice aussprechen, der Ort Damour, dessen christliche Bevölkerung von PLO-Verbänden massakriert wurde, kein Begriff?

Hat es in der Bundesrepublik eine spürbare Betroffenheit, eine Welle der Empörung oder irgendwelche Proteste gegeben, als im

April 1985 eine Reihe christlicher Dörfer in der Nähe von Sidon von schiitischen Milizen überrannt, geplündert, dem Boden gleichgemacht wurden, als Hunderte von Menschen getötet und Tausende aus ihren Häusern vertrieben wurden? Wo bleiben die deutschen Intellektuellen, die zu Beginn der israelischen Invasion im Libanon in großflächigen Zeitungsanzeigen ein sofortiges Ende des Blutvergießens forderten?

Das stimulierende Moment, das die Empörung aktiviert, liegt in dem Umstand, daß die Täter Israeli, also Juden, sind, nicht in den Gewaltakten an sich oder in der Charakteristik der Opfer. Der Schwarze September 1970 zum Beispiel, als die Truppen von König Hussein Tausende von Palästinensern umbrachten, vermag nicht einen Bruchteil der Gefühle zu stimulieren wie das Massaker von Deir Yassin im April 1948, für das der ,Irgun’ von Menachem Begin verantwortlich war. Die Beteiligung von Juden verleiht jedem

Vorgang einen besonderen Geruch. Es ist kein Zufall, daß Fassbinder sich für sein Stück ,Die Stadt, der Müll und der Tod’ die Figur des reichen Juden ausgesucht hat.

Da Rassismus heute verpönt ist, werden keine Völker oder ethnische Gruppen, sondern nur noch Ideologien verfolgt. Man ist Anti-zionist, so wie man Antiimperia-list ist, man ergreift Partei für die Unterdrückten und Verfolgten, aber man sucht sich die Unterdrückten und Verfolgten, für die man Partei ergreift, sehr sorgfältig aus, wobei nicht die Frage, wer verfolgt wird, sondern wer der Verfolger ist, über das Engagement entscheidet. Der Antizionis-mus hat, ob’s nun die Protagonisten dieser Pose zugeben oder nicht, im Kern dieselbe libidinöse Qualität wie der Antisemitismus: Es geht gegen Juden, nur ist an die Stelle des religiösen oder rassischen Motivs ein scheinbar politisches getreten, das Menschen mit aufgeklärtem Bewußtsein, ohne sich zu schämen, vertreten können.

Aus: Henryk M. Broder, „Der ewige Antisemit". Fischer-Taschenbuch 3806.

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