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DER REIHER

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Dies war es, was unser Freund berichtete:

Eine Schar Reiher kam den Himmel herauf. Sie flogen in der keilförmigen Ordnung, mit der die Zugvögel zwischen Nord und Süd wandern, nach dem geheimen wundervollen Gesetz des Lebens, dem sie folgen. Ich war entzückt von dem Anblick dieser Tiere, die dunkel unter dem Blau der Unendlichkeit über mir schwebten, eine in Zucht und Regel flügelschlagend gleitende Gemeinschaft.

Ich trug mein Gewehr. Es war neu, bedacht mit allen Vorzügen einer ausgezeichneten Schußwaffe und überdies noch mit dem besten Visierfernrohr versehen, das eben erst vielbewährte Fachleute geschaffen hatten. Ich hob die Flinte, zielte nach dem Reiher, der den Flugkeil führte, und drückte ab.

Ein guter Schuß. Der Vogel schien in der Luft stillzustehen, dann wirbelten seine breiten Flügel ziellos umher, während einige Federn fortstoben, und nun sank das Tier geradewegs zu Boden. Die anderen schwirrten einen Augenblick in Verwirrung nebeneinander. Ehe noch ein neuer Führer dem Keil wieder die alte Ordnung gegeben hatte, ging ich auf die Suche nach meiner Beute. Ich hielt genau die Richtung ein, ich mußte durch dichtes Buschwerk und hartes Schilfrohr, dann fand ich auf einer Rasenlichtung den Reiher — ein graues, weißes und schwarzes Nichts, ein Stück Tod.

Ich stand vor dem Ding, das eben noch hoch über mir als lebendiges Wesen kräftig, schön, im Glück der Gemeinschaft seine große Fahrt geflogen war. Und angesichts der Zerstörung wurde ich mir des Unheils ganz bewußt.

Weshalb, fragte ich mich voll Entsetzen, weshalb hast du es getan? Du spürst nicht Hunger nach dem Fleisch des Reihers, du verlangst nicht nach seinem Federschmuck. Weshalb hast du dieses Leben zerstört? Aus herrischem Mutwillen, um dir selbst die Sicherheit deiner Hand und die Gewalt deiner Flinte zu beweisen. Aus Lust an deiner Macht, die sinnlos dem Tode befiehlt. Du bist schuldig, schuldig, dreimal schuldig.

Laßt eure Einwände, eure Widerrede, euren Trost I Mit Worten wird alles bewiesen und alles widerlegt. Ich brauche nicht eure Hilfe, euren Zuspruch, eure Vernunft. Ich brauche Gerechtigkeit. Die könnt ihr mir nicht geben.

Aber ich weiß, daß über mich wie über uns alle der Ewige einmal Gericht halten wird. Dann werden seine Engel bezeugen, was ich auf Erden Gutes getan, was ich verabsäumt habe und wie ich eines oder des anderen Tages dem Bösen nicht entgegengetreten bin. Ich werde warten, daß ein Engel auch von dem Reiher spricht. Warte ich vergebens, so will ich selbst, ehe das Urteil über mich gefällt ist, laute Klage erheben:

„Vergeßt nicht den Reiher! Vergeßt ihn nicht! Ich muß sühnen, was ich an ihm verbrochen habe! Gebt dem Reiher die Gnaden, die mir zugedacht sind! Nehmt für ihn ein Teil meiner ewigen Seligkeit! Ich kann erst in ihr ruhen, bis ich gebüßt habe!“

Ja, so werde ich reden und rufen, ehe das Urteil gesprochen ist.

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