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Arme in Österreich

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„Selbst die orthodoxen Marxisten haben die Verelendungstheorie fallengelassen“, konterte zum Auftakt der Budgetdebatte SPÖ-Klubob-mann Heinz Fischer auf eine sehr starke Passage im Generaldebatten-Beitrag von ÖVP-Chef Josef Taus. Mit den V/orten „... ich möchte nun aber die Finger auf eine Wunde legen, die in den letzten Jahren größer geworden ist...“ kam Taus auf unsere Gesellschaft zu sprechen, „in der man die Armut versteckt, die sich dafür schämt, nicht darüber redet“.

Das Taus-Bemühen, immer wieder darauf hinzuweisen, daß Kreisky unter der Parole „Kampf der Armut“ sein Amt angetreten hatte und daß etwa die Lohnstufenstatistik der Sozialversicherung 1975 im Vergleich zu 1971 um 53.000 oder rund ein Fünftel zusätzliche öterreicher unterhalb der Armutsgrenze aufwies, kommt nicht von ungefähr: Das Hauptstandbein der ÖVP ist seit ihrem Bestehen der Mittelstand, die große Gruppe der mittleren bis gehobenen Verdiener. Seit die Sozialisten am Regierungsruder sind und auf der permanenten Suche nach Wählerstimmen sich zu einer zweiten Volkspartei mit liberalem Anstrich entwickelt haben, profiliert sich auch die SPÖ zusehends mehr als Anwalt des Mittelstandes denn der einkommensschwächeren Gruppen im Lande.

Die Anliegen der Armen sind heute in politischer Hinsicht unver-treten. Die mit allen Attributen lies Bürgerlichen, des Mächtigen und des kapitalkräftigen Mäzenatentums umflorte SPÖ vertritt sie nicht mehr. Und die ÖVP hat sie bisher nicht vertreten.

Die Taus-Rede im Parlament war ein Signal dafür, daß die ÖVP trachten wird, den von der SPÖ geräumten Sessel des sozialen Engagements möglichst noch vor den nächsten Wahlen zu besetzen.

Die nach dem kurzfristigen Wettereinbruch der Ölschock-Phase ungeschmälert anhaltende Wohlstands-Euphorie hat die Frage nach dem „Armsein“ an den Rand unseres Bewußtseins gedrängt. Indessen sieht die Realität der siebziger Jahre für die einkommensschwachen Schichten in Österreich häßlich genug aus. Anhand der Mehrzahl der wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen kann wahrscheinlich nach eingehender Analyse festgestellt werden, daß diese Maßnahmen primär einem expandierenden Mittelstand auf den Leib geschneidert wurden. Sei es durch die Regierung, sei es durch die Sozialpartner.

Man denke etwa an die Einführung und alsbaldige Erhöhung der Mehrwertsteuer, die ja Einkommensschwache ungleich härter trifft, da sie völlig undifferenziert bei jedem Einkauf dem Reichen wie dem Armen gleich viel aus der Brieftasche zieht. Der verminderte Mehrwertsteuersatz für Grundnahrungsmittel oder Wohnungen ist ein völlig unzureichender Ausgleich. Ein weiterer markanter Punkt: Die gesamte Wirtschafts- und Sozialautomatik, die sich in den jährlichen Lohn- und Gehaltsrunden spiegelt. Löhne und Gehälter von arm und reich werden pro Jahr um einen gleichen Prozentbetrag erhöht, der sich aus Inflation plus Reallohnzuwachs zusammensetzt. Unbeachtlich der Tatsache, daß einer, der viermal soviel verdient, nicht viermal soviel auszugeben gezwungen ist, daß bei ihm die Sparneigung viel größer ist.

SPÖ-Denkprothese Egon Matzner schreibt in der jüngsten Nummer der )rAcademia“ unter „Grenzen des Wohlfahrtssystems“: „Mich hat es sehr getroffen, daß Dr. Taus vor einiger Zeit als Zielgruppe der ÖVP die 60 Prozent des Mittelstandes definiert hat. Von ihm als Vertreter der Katholischen Soziallehre hätte ich erwartet, daß er zuerst an die 20 Prozent Armen denkt.“ Der ÖVP wäre zu wünschen, daß Matzners Erwartungen nicht länger unerfüllt bleiben.

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