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Das Ende der „Volksgazet“ oder: Wenn Gewerkschafter ausbeuten

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Flanderns ergraute sozialistische Tageszeitung, „Volksgazet“ ist pleite. So schlicht und ergreifend dies auch gesagt sein mag: Hinter dem endgültigen Konkurs verbirgt sich nicht nur ein Zusammenbruch politischer Uberzeugungen, sondern auch mehr menschliches Leid, als die 310 auf die Straße gesetzten Betriebsangehörigen in Worte fassen können.

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Flanderns ergraute sozialistische Tageszeitung, „Volksgazet“ ist pleite. So schlicht und ergreifend dies auch gesagt sein mag: Hinter dem endgültigen Konkurs verbirgt sich nicht nur ein Zusammenbruch politischer Uberzeugungen, sondern auch mehr menschliches Leid, als die 310 auf die Straße gesetzten Betriebsangehörigen in Worte fassen können.

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Das in Antwerpen herausgegebene Organ der Belgischen Sozialistischen Partei (BSP) in Flandern hatte sich unter der 33jährigen Herrschaft seines Chefredakteurs Jos van Eynde von 150.000 Exemplaren zu Beginn der fünfziger Jahre auf knapp 50.000 Mitte 1978 heruntergewirtschaftet Die für eine Tageszeitung wichtigen, gewinnbringenden Anzeigen blieben aus, der Schuldenberg wuchs unaufhaltsam. Als Jos van Eynde zu Beginn dieses Jahres seinen Abgeordnetensitz in der Kammer und seinen Chefredakteursessel aufgab, machte sein Nachfolger Francois Geudens einen ersten Anlauf, um die Zeitung vor dem drohenden Konkurs zu retten. Die Aufmachung wurde etwas moderner, doch das graue, unansehliche Papier blieb.

Hatte „Volksgazet“ sich in den letzten Jahren noch mit Hüfe der jährlich gezahlten Staatssubventionen über Wasser halten können, 1978 entschied sich die belgische Regierung erst nach dem Konkurs, die auch im vorigen Jahr gezahlte Pressesubventionen zu gewähren. Als Verteilungsschlüssel für die Subventionen an die Zeitungen in Höhe von umgerechnet rund 100 Millionen Schüling gut die Menge des eingekauften Papiers. Da die zahlreichen belgischen Tageszeitungen mit wenigen Ausnahmen in ständigen Finanznöten sind, wird man sich über die Verteilung meistens schnell einig. Für „Volksgazet“ aber war es in diesem Jahr zu spät.

Eine in aller Eile errichtete Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die „N. V. de Roos“, unter der Leitung des sozialistischen Gewerkschaftsfunktionärs Marcel Schöters - dessen Rolle bei den Hafenarbeiterstreiks von 1973 den Antwerpenern noch in denkwür-

diger Erinnerung ist - erhielt von den Konkursverwaltern die Möglichkeit, das Weitererscheinen der „Volksgazet“ bis zum 15. September in gute Bahnen zu leiten.

Die „Sozialistische Gemeinschaftsaktion“, eine in unübersichtlicher Weise verflochtene Anhäufung von Partei-und Gewerkschaftsverbänden, Krankenkassen, Genossenschaften, Coop-Läden und Versicherungen brachte über 20 Millionen Schilling zusammen, um die Zeitung über die nächsten zwei Monate hinwegzuretten, gleichzeitig die Gelegenheit nutzend, den ungeliebten, engstirnigen Parteijargon zu verbannen und den Weg zu einem „weltoffenen sozialistischen Organ“ -„parteiunabhängig“ versteht sich - zu öffnen. Belgiens Gewerkschaften sind nämlich schon längst stärker, als seine Parteien...

Was diese Gewerkschaftler stets an den kapitalistischen Unternehmern kritisiert hatten, führten sie nun selbst aus. In ihrem Drang nach Rationalisierung setzten sie zunächst einmal 125 der 310 Betriebsangehörigen auf die Straße. Die verbleibenden erhielten ein Vertragsangebot für die nächsten zwei Monate („... und dann sehen wir weiter...“) bei gleichzeitiger Gehaltskürzung von zwanzig Prozent. Vor allem aber erstreckte sich die Rationalisierung auf den Betriebsrat: Fünf der sechs stramm gewerkschaftlich organisierten Betriebsräte wurden entlassen. Außerdem wurden drei weitere Gewerkschaftsfunktionäre entlassen, die in die Belegschaft der „Volksgazet“ eingereiht waren. Das Vorgehen der sozialistischen „Rationalisierer“ war jedoch zu hart: Die Belegschaft trat den Weg zur Stempelbehörde lieber an, als sich in einem sozialistischen Be-

trieb, geleitet von einem sozialistischen Gewerkschaftler, der diesen Betrieb von Gewerkschaftlern gesäubert hat, lenken, leiten und ausbeuten zu lassen.

Die wirtschaftlichen Kalkulationen der flämischen Sozialisten scheinen jedenfalls nicht aufgehen zu wollen. Bei den Wahlen für die Kammer 1977 hatten 723.655 Flamen sozialistisch gestimmt. In den sozialistischen Gewerkschaftskreisen hofft man, im kommenden Herbst wenigstens zehn Prozent der sozialistischen Wähler als treue Leser einer neuen Tageszeitung gewinnen zu können. Der Titel „Volksgazet“ darf nicht benutzt werden, er gehört zur Konkursmasse. Man wird sich daher etwas einfallen lassen müssen, um das Gewinndenken der kapitalistischen Unternehmer mit einer neuen Zeitung bekämpfen zu können, mit einer Zeitung, die möglichst viele Anzeigen solcher Unternehmungen in ihren Spalten unterbringen soll, die Staatssubventionen zur „Erhaltung der Meinungsverschiedenheit in der Presse“ nicht verschmäht und so die Fahne des Sozialismus hochhält.

Inzwischen haben die französischsprachigen Brüsseler Tageszeitungen „La Berniere Heure“ und „La Libre Belgique“ ebenfalls finanzielle Schwierigkeiten. Ob der auf beiden entfallende Anteü der Staatssubvention ausreicht, drohendem Konkurs zu entgehen, wird sich im Herbst zeigen. Vielleicht denkt inzwischen jemand darüber nach, wie die schöpferischen Kräfte in Belgiens Presse nutzbar gemacht werden können, ohne immer den Steuerzahler dafür büßen zu lassen.

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