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Der Mensch - wer ist er wirklich?

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Angesichts der wachsenden Fortschrittsunwilligkeit beginnen auch Vertreter von Wissenschaft, Industrie und Politik über die Ursachen dieser Verunsicherung nachzudenken. Fortschritt und Sicherheit werden heute nicht mehr als selbstverständlich zu vereinbarende Eigenschaften des allgemeinen Zivilisationsprozesses aufgefaßt. Ist die Bilanz neuzeitlichen Fortschritts so negativ, daß es zu solchen Erschütterungen kommen konnte?

Überwiegt die Palette der lebensbelastenden Zivilisationsfolgen den Freiheitsgewinn und die Erleichterung, die es im Hinblick auf die Entlastungen des Menschen auch gegeben hat? Oder wurzelt die Krise tiefer?

Die Ablösung des an transzenden- . tale Heilshoffnungen und Heilszusagen gebundenen abendländischen Geschichts- und Erlösungsbewußtseins durch den Anspruch einer aufklärerisch-immanenten Vernunft, die sich selbst vollenden können muß, hat zweifellos Konsequenzen, die wir erst heute vollends erfahren. Eingeklemmt zwischen ein immer weiter gehendes Ausufem des Planenmüssens einerseits und der Erfahrung einer zunehmenden Fehlläufigkeit dieser Planungsvorgänge anderseits führt Fortschęittsrationalitat zur Produktion von Unsinn und Unsicherheit.

Sind wir dabei, die physische und geistige Kontrolle über unsere Gesellschaft zu verlieren, sofeme wir sie nicht bereits schon verloren haben? Die Kontrolle verlieren und in krankhaften Fortschrittswahn verfallen, heißt,

alle Probleme des Lebens zu teclinischen Problemen zu machen und dafür technische Lösungen zu finden. Dieser Wahnsinn hat Methode und dringt in alle Fortschrittskonzepte ein, ob sie nun friedlichen oder kriegerischen

Zwecken dienen.

Was aber ist mit einer Welt, in der das- unverwechselbare Subjektsein des Menschen und die Spontaneität des Lebens oder die Emotionalität des Menschen nicht mehr vorkommen? Dann werden die Menschen krank, neurotisch, psychopathisch, suicidal.

Da wächst eine junge Generation heran, die nicht Sicherheitstechnik, sondern Lebenssinn haben will. Wenn wir den Menschen Glück bieten wollen, so stellt sich die Notwendigkeit einer radikalen Revision unserer bisherigen Lebensvorstellungen, eine geistige Umwälzung von kopernikanischem Ausmaß. Denn das zentrale Problem der zeitgenössischen Kultur ist die Frage der Wahl sinnhafter, auf den Primat des Seins gründender

Vorstellungen über den Menschen und seine Werte.

Aus diesem Grundanliegen schlossen sich 1977 in Rom Vertreter aus Kulturpolitik und Kirche zur internationalen Initiative „Nova Spes“ zusammen, in eine Bewegung, die sich zur Aufgabe gestellt hat, die Grundwerte der abendländischen Tradition zu schätzen und zu fördern, um so zur Fortschrittsentwicklung der Menschheit beizutragen. Unter Vorsitz des Wiener Erzbischofs Kardinal Franz König versammelte sich „Nova Spes“ zu ihrem ersten

Kolloquium im November in Rom. Mehr als dreißig Wissenschaftler aus verschiedenen Ländern, darunter auch Österreicher, nahmen teil. Dabei sollte auch eine neue Antwort auf die alte Frage gegeben werden: Wer ist der

Mensch wirklich?

Die Menschheit steht heute im Übergang zu einer Phase der Ent-

Wicklung, die von einer neuen Informationsart, der intellektuellen Information, beherrscht wird. Gerade dieser Übergang von einer in die andere Evolutionsphase ist mit die Ursache der heutigen Ratlosigkeit und Entwurzelung des Menschen. Die Problematik der heutigen Menschheitssituation liegt in der Dissonanz der in biologischer Evolution gewachsenen Charaktereigenschaften des Menschen mit den technischen Möglichkeiten der beginnenden intellektuellen Evolutionsphase.

Angst und Aggression sind wohl die gefährlichsten Eigenschaften, die der Mensch aus seiner biologischen Vergangenheit mitgebracht hat. Er ist der Nachkomme der ängstlichen und hinterlistigen Totschläger. Und weil er das ist, mißtraut er bis heute seinem Nachbarn.

Dieser Charakter von gestern ist aber mit der Waffentechnologie von heute unvereinbar. Von allen Problemen der heutigen Menschheit scheint daher die totale Abkehr von aller Gewalt die weitaus wichtigste Aufgabe zu sein. Wenn die Menschheit im Inferno eines ABC-Krieges zugrunde ginge, wäre es belanglos, welche Lösungswege man für alle anderen

Menschheitsprobleme eingeschlagen hätte. Gewaltlosigkeit und Toleranz müssen die wichtigsten Eigenschaften des heutigen und zukünftigen Menschen sein.

Heute scheint der Augenblick gekommen zu sein, von dem Karl Friedrich von Weinzsäcker einmal gesagt hat: „Eines möchte ich den Theologen sagen: sie wahren die einzige Wahrheit, die tiefer reicht als die Wissenschaft,

auf der das Atomzeitalter beruht. Sie wahren ein Wissen vom Wesen des Menschen, das tiefer reicht als die Rationalität der Neuzeit. Der Augenblick kommt unweigerlich, in dem man, wenn das Planen scheitert, nach dieser

Wahrheit fragt und fragen wird.“

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