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Der Partisan des Geistes

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„Ich war gezwungen, eine Art Partisanenkrieg für meine wissenschaftlichen Ideen zu führen; das heißt, mit einigen Stalin-Zitaten das Erscheinen meiner Arbeiten zu ermöglichen und in diesen dann meine abweichende Anschauung mit der nötigen Vorsicht so offen auszudrücken, wie es der jeweilige historische Spielraum gestattete. Daraus folgte zuweilen ein Gebot des Schweigens.“

Es ist der marxistische Philosoph Georg Lukäcs, der, aus einer Entfernung von mehr als zehn Jahren rückblickend auf seine Moskauer Jahre, sich als einen Partisanen des Geistes bezeichnete. Man darf diesen Hinweis nicht wörtlich nehmen. Lukäcs war zeitlebens ein Mann des Geistes, aber er war kein Kämpfer in dem Sinn, wie dies die intellektuellen „Revolutionäre“ der westlichen Wohlstandsgesellschaft heute von ihren Idolen erwarten. Die Lage war damals meistens „kompliziert“ und dementsprechend lebensgefährlich. Und Theorie und Praxis lagen zuweilen so dicht nebeneinander, daß man selbst als — in bürgerlichen Augen — „harmloser“ Literaturwissenschaftler, der über den jungen Hegel eine Abhandlung schrieb, um ein Haar in die Fallstricke der Geheimpolizei geraten konnte. Und so übte denn auch Lukäcs des öfteren Selbstkritik und schwieg jahrelang, so zuletzt nach dem kurzen Zwischenspiel während der Herbstwochen des Jahres 1956, als er im Budapester „Petöfl-Kreis“ für seine Ideen offen eintrat und sich schließlich auch an der Regierung von Imre Nagy beteiligte.

Aber er schwieg auch schon vorher, ganze dreißig Jahre lang, zu den die politische Macht unmittelbar betreffenden Fragen des „Marxismus- Leninismus“, obwohl der Budapester Bankierssohn und romantische Jüngling, Autor der Essay-Sammlung „Die Seele und die Formen“, nach Berliner und Heidelberger Studienjahren unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution mit einer einzigen, seither nicht mehr wieder- rufienen Kehrtwendung den „Weg zu Marx“ angetreten hatte. Sein berühmtes Buch „Geschichte und Klassenbewußtsein“ (1923) wurde bereits von der kommunistischen Partei scharf angegriffen. So war sein „Weg zu Marx“ auf weiten Strecken des Lebens in sonderbarer Weise, ungeachtet des ständigen Streitgesprächs der Jünger und der Inquisitoren mit und über Lukäcs, ein einsamer Weg.

Georg Lukäcs war 1919 Unterrichtsminister in der kurzlebigen ungarischen Räteregierung. Es folgten Jahre der Emigration in Wien, und in Moskau, während der Periode der Säuberungen. Lukäcs überlebte als Außenseiter, als marxistischer Ästhet, der — so Ernst Bloch über seinen Jugendfreund Lukäcs — „dem glutäugigen marxistischen Popanz“ sein Denken wie sein Leben geopfert habe. In seinen letzten Lebensjahren erlebte Lukäcs eine Art Rechtfertigung auf rein wissenschaftlich-publizistischer Ebene. Seine berühmten Bücher wurden auch in der Bundesrepublik neu verlegt. Er ist noch zu Lebzeiten eine historische Gestalt geworden: An seinem Lebenswerk, kann man Widersprüche und Irrwege nicht nur eines Gelehrten, sondern einer ganzen Epoche ablesen.

Lebensdaten: Geboren am 13. April 1885 in Budapest, gestorben’ ahri 5. Juni 1971 ebendort. Hauptwerke ^etrtSchsprächrge Ausgaben): "„Die Seele und die Formen“ (1911), „Die Theorie des Romans“ (1920), „Geschichte und Klassenbewußtsein“

(1923), „Lenin“ (1924), „Der junge Hegel“ (1948), „Thomas Mann“ (1949), „Goethe und seine Zeit“ (1950), „Die Zerstörung der Vernunft“ (1954), „Der 1 historische Roman“ (1955), „Wider ‘ den mißverstandenen Realismus“ 1 (1958), „Die Eigenart des Ästheti- ; sehen“ (1963). Zum achtzigsten Geburtstag von Georg Lukäcs vor sechs ■ Jahren erschien, herausgegeben von 1 Frank Benseler im Verlag Luchterhand, der auch die Neuausgaben der Werke betreut, eine Festschrift; die oben angeführten Zitate sind dieser 1 Schrift entnommen. („Die Furche“ widmete Georg Lukäcs einen Artikel zuletzt in der Nr. 37/1970 anläßlich 1 der Verleihung des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt a. M. an den ; ungarischen Gelehrten.)

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