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Dialogisches Leben

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Martin Buber, der 1965 verstorbene jüdische Ethiker, war es eigentlich, der den heute so wichtigen Begriff „Dialogisches Leben", oder kurz des Dialoges, neu prägte. Ein Begriff, der auf allen Gebieten — auch auf dem der Kirche — neues Leben erweckte. — Man hat unser Zeitalter, das sich so vielfach auf Hegel und Marx beruft, nicht ohne Grund das „dialektische" genannt. Dialektik — das ist die streng logische, strikt rationale, intellektuelle Entwicklung von These, Antithese und Synthese — ein Vorgang, der am Sachlichen, Dinghaften der „Es-Welt" von einem denkenden Subjekt aus betrachtend erkannt wird.

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Martin Buber, der 1965 verstorbene jüdische Ethiker, war es eigentlich, der den heute so wichtigen Begriff „Dialogisches Leben", oder kurz des Dialoges, neu prägte. Ein Begriff, der auf allen Gebieten — auch auf dem der Kirche — neues Leben erweckte. — Man hat unser Zeitalter, das sich so vielfach auf Hegel und Marx beruft, nicht ohne Grund das „dialektische" genannt. Dialektik — das ist die streng logische, strikt rationale, intellektuelle Entwicklung von These, Antithese und Synthese — ein Vorgang, der am Sachlichen, Dinghaften der „Es-Welt" von einem denkenden Subjekt aus betrachtend erkannt wird.

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Die „Es-Welt" oder auch, kurz gesagt, das „Es" bei Buber hat nichts mit dem „Es" von Sigmund Freud zu tun, bei welchem es den „Urtrieb" schlechthin oder die Triebquelle bedeutet, während es bei Buber alles Dinghafte umfaßt, das außerhalb der „Ich-Dü'-Beziehung steht, alles, was nicht ansprechbar, was verfremdet und daher vielfach beängstigend den modernen Menschen umgibt. Darin berührt Bubers Gedankenkreis den des viel jüngeren Existentialismus als der Philosophie des „Ausgesetztseins" des Lebendig-Seienden — des Menschen — in die angsterregende Welt des Nichtseins, in der er sich behaupten muß.

Für Buber aber ist nicht der einsame Mensch an sich der lebendige, wirklich seiende. Er wird Person erst indem er zu anderen Personen in Beziehung tritt und zur Begegnung des „Du" gelangt. „Denn durch die Berührung jedes ,Du' rührt ein Hauch des ewigen Lebens uns an", heißt es in Bubers bedeutsamem Werk „Dialogisches Leben" (Gregor-Müller-Verlag Zürich 1947; dann bei Rütten & Loening, Frankfurt 1954), welches alle seine pädagogischen Schriften umfaßt, darunter auch die grundlegende „ich und du", die er zuerst schon 1923 gesondert herausgab. „Wer in der Beziehung steht, nimmt an einer Wirklichkeit teil, das heißt an einem Sein, das nicht bloß in ihm und nicht bloß außer ihm ist. Alle Wirklichkeit ist ein Wirken.,. Die Teilnahme ist um so vollkommener, je unmittelbarer die Berührung des Du ist. — Das Ich ist wirklich durch seine Teilnahme an der Wirklichkeit. Es wird um so wirklicher, je vollkommener die Teilnahme ist."

„Dialogisches Leben" — schon in dieser Bezeichnung allein liegt Martin Bubers schöpferischer und eigenständiger Grundgedanke, mit dem er sich loslöst von der dialektischen Gedankenwelt Hegels und Feuerbachs, die wohl um die „Verding-lichung" und „Verfremdung" wußten (ein Wort, das erst in jüngster Zeit, und zwar durch Bert Brecht, auch in die Literatur eindrang) — aber nichts wußten von der Verwirklichung des Menschen durch seine Teilnahme an einem Du.

Hier nämlich redet nicht mehr ein starrer Logiker und Mechaniker des Denkvorganges zu uns — hier spricht ein in die Tiefe des Menschenherzens eingedrungener Weiser uns an, der es sich durch Jahrzehnte seines pa-triarchenhaft langen Lebens (er wurde 1878 in Wien geboren) zur Aufgabe gemacht hat, in die religiöse Gedankenwelt nicht nur seines eigenen, des jüdischen Umkreises,

Die seit 1962 im Kösel-Verlag in Zusammenarbeit mit Lambert Schneider herausgegebene dreibändige Edition der Schriften Bubers ist derzeit vergriffen. Einzelne Bücher sind im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, erschienen, und zwar Schriften zur Philosophie, zur Bibel und zum Chassidismus. Der gleiche Verlag bereitet nun eine große Briefedition unter dem Titel „Briefwechsel aus sieben Jahrzehnten" vor, deren erster Band (1897 bis 1918) bereits 'erschienen ist. Die Themen sind: Anfänge des Zionismus, die Entdek-kung des Chassidismus, Begegnungen mit Dichtern, Erlebnis des ersten Weltkrieges usw. Insgesamt stehen für diese Ausgabe etwa 1200 Briefe aus dem Buber-Archiv der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem zur Verfügung. Herausgeberin ist Grete Schaeder. Beratend wirken mit: Ernst Simon, Margot Cohn und Gabriel Stern. Jeder Band wird etwa 600 Seiten umfassen und DM 55.— kosten.sondern auch in die Religion und Mystik anderer Völker — darunter solcher des Fernen Ostens, Indiens, Chinas — aber auch in Meister Ekkehards, des bedeutenden deutschen Mystikers, tiefes Gotteserlebnis und in die allverbundene Mystik des heiligen Franziskus einzudringen. Natürlich wurde ihm der europäische Osten — Galizien, wo er bei seinem weisen Großvater Salomon Buber aufwuchs, und Rußland sowie die Ukraine — zur besonderen Fundgrube östlicher Gotteserfahrung; damals waren in diesen Gebieten Hunderttausende sehr armer, tiefgläubiger Juden ansässig, unter denen sich im 18. Jahrhundert eine wahre religiöse Erneuerung vollzogen hatte, welche man die Bewegung der „Chassidim" nennt. Ihr Streben ging nach einer fröhlichen „Weltfrömmigkeit" in Gestalt der innigsten Verbundenheit untereinander und mit ihrem „Zaddik" (das heißt gerechter Rabbi), und durch diese starke und echte Du-Beziehung fanden sie auch ihre Verbindung mit dem — nach Buber — umfassendsten „Du", mit Gott.

Es ist hier nicht der Platz, auf diese, von Buber mit so entschiedener Teilnahme in ihren Ausläufern vor dem ersten Weltkrieg miterlebte, religiöse Strömung näher einzugehen, der er sich — wie er selbst berichtet — am liebsten ganz und gar angeschlossen hätte, wenn nicht ihr Ende damals gekommen wäre. Buber hat dem Chassidismus mehrere grundlegende und zugleich tiefsinnig-lebenswahre Bücher voll echter Menschlichkeit gewidmet (zum Beispiel „Die Geschichten des Rabbi Nachmann" und „Gog und Magog", beide in der Fischer-Bücherei. Sehr früh schon „Die Legende des Baal-sehem" und das Werk „Mein Weg zum Chassidismus" sowie „Der große Maggid und seine Nachfolge", beide bei Rütten & Loening, Frankfurt/ Main 1918 und 1922), und es scheint mir kein Zweifel möglich, daß dieses Miterleben so erfüllter und verwirklichter Menschengemeinschaft, wie sie in jenen äußerlich so armseligen Gruppen herrschte (und die Gruppe ist das Gegenteil der Vermassung im Kollektiv, ihr geht es ja um jedes einzelne Individuum und seine geistige Entfaltung!), ihn erst zu dem gemacht hat, der er zuletzt war, da er 85 Jahre zählte — der lebendigste, humanste, verantwortlichste Lehrer und Kenner auf dem Gebiet der Volksbildung und Erziehung.

Als nach dem ersten Weltkrieg auch in Deutschland, ja in ganz Westeuropa eine Art „innerer Umkehr" sich vollzog (um einen der ihm liebsten Begriffe aus Bubers Gedankenwelt hier einzuführen), als das fast begeisterte Gefühl des Neubeginns, der „Erfüllung im Jetzt und Hier" um sich griff (das seinen künstlerischen Ausdruck bekanntlich im Expressionismus mit seinem neuen „Gemeinschaftsgefühl" fand), da begann man allerorten, nicht zuletzt auch in Wien, ebenso wie in Deutschland, nach neuen Wegen der Erziehung zu suchen. Und — was im wilhelminischen Deutschland, also vor 1918, noch weniger möglich gewesen war als etwa im kaiserlichen Österreich — der damals noch weltabgeschieden als Privatgelehrter, zionistischer Kulturpolitiker und Schriftsteller in dem kleinen Städtchen Heppenheim bei Heidelberg lebende, doch den modernen Erzieherkreisen bereits rühmlich1 bekannte Martin Buber wurde vom „Internationalen Arbeitskreis für Erneuerung der Erziehung" als Hauptreferent der 3. Internationalen pädagogischen Konferenz in Heidelberg (1925) berufen. Damals hielt er jene berühmt gewordene „Rede über das Erzieherische", die 1926 im Verlag Lambert Schneider herauskam; sie ist, neben der unüberhörbar „brüderlichen", mitmenschlichen Botschaft seines „Ich und Du" wohl seine wichtigste pädagogische Schrift überhaupt, und keiner, der die Berufung zum Jugend- oder Erwachsenenbildner in sich fühlt, darf über diese beiden fundamentalen Darlegungen des wahren Weges und Wesens der Erziehung hinweggehen. Er muß sie in sich aufnehmen, sich davon durchdringen lassen — wie seine damaligen Hörer und Studenten es taten, die sich nicht nur in unmittelbar folgenden Aussprachen, sondern in lang dauernden Arbeitskreisen mit Bubers „Wahrheit der Erziehung" auseinandersetzten.

Er selbst begann in den zwanziger Jahren systematisch mit Lehrversuchen in Deutschland, Holland, der Schweiz. Schon 1924 hatte ihn die Universität Frankfurt am Main zum Professor für Religionswissenschaft und Ethik berufen; 1933 freilich mußte er sie verlassen, doch blieb er noch bis 1938 in seiner Wahlheimat, am Freien jüdischen Lehrhaus in Frankfurt, tätig, bis er endlich seinen Jugendtraum in Wirklichkeit umsetzen und an die Hebräische Universität in Jerusalem als ordentlicher Professor ziehen konnte. Seit 1951 wirkte er auch als Leiter der Volksbildung. Die Befähigung für seine dortige Lehrtätigkeit hatte Buber — außer in vielen seiner judai-stischen Schriften — nicht zuletzt durch die großartige neue Verdeutschung der Bibel (zusammen mit Franz Rosenzweig) — erbracht.

Doch gerade an Bubers Wirken als Lehrer erweist sich die Wahrheit seiner eigenen These, daß „der Meister das Vorbild des Lehrers bleibt: Da lebte früher ein Meister, ein Philosoph etwa oder ein Eruschmied" — sagt Buber — „seine Gesellen und Lehrlinge lebten mit ihm, sie lernten, indem er sie teilnehmen ließ, aber sie lernten auch, ohne es zu merken, das Mysterium des perso-nenhaften (das heißt wirklichen) Lebens, sie empfingen den Geist." So heißt es in dieser Rede, und Buber führt aus, daß auch der wissende Lehrer in der Erziehung „so scheinbar unwillkürlich, so leise vorgehen muß, als täte er es nicht"; „jenes Fingererheben, jener fragende Blick — das ist sein echtes Tun ... Das verborgene Einwirken aus der Ganzheit des Wesens hat die ergänzende, die erziehende Kraft." Das erzieherische Verhältnis ist also, nach Buber, „ein rein dialogisches". Das Wichtigste ist es, das Vertrauen des Zöglings zu gewinnen, dann gewinnt dieser auch Vertrauen zur Welt, er fürchtet sich nicht mehr, ausgesetzt und ausgestoßen zu sein, er „liegt bewahrt und behütet", er wird „unverwundbar". Das ist im frühesten Lebensalter des Kindes die Aufgabe der sorgenden Mutter, die unersetzlich ist. Wo sie fehlt, mangelt dem Kind zeitlebens der zutrauliche Halt. Später wird es die wichtigste Tat des Erziehers, im jungen, werdenden Menschen das Vertrauen zur Welt zu festigen, dadurch, „daß es diesen Menschen (den Erzieher) gibt".

Dieses Vertrauen des Kindes legt seinem Meister eine große Verantwortung auf: Er muß in Wahrheit vor dem Jüngeren bestehen, auch wenn er sich nicht stets mit ihm befassen kann und darf. „Aber", sagt Buber, „hat der Lehrer es wirklich aufgenommen, dann ist jene unterirdische Dialogik gestiftet. Dann ist Wirklichkeit zwischen beiden, Gegenseitigkeit". Freilich, eine von besonderer Art, nicht die der liebenden „Umfassung", obwohl kein anderes Verhältnis so sehr wie das erzieherische auf das Element der Umfassung angewiesen ist; aber diese Umfassung ist einseitig, sie ist verantwortlich, sie muß sich vom erzieherischen Willen leiten lassen, doch zugleich sich vor der Willkür auf's sorglichste hüten. Immer wieder muß' der Lehrer sich in die Seele des anderen, des Schülers versetzen und selbst spüren, „wie das tut". Nur dann wird die „Umfassung" zur erziehenden Atmosphäre.

Auf die immer wiederkehrende Frage: „Wohin, auf was hin, soll erzogen werden?" wendet Buber ein, daß unsere Zeit nicht mehr einen bestimmten „Typ" ausbilden solle, wie etwa den Typ des „guten Bürgers" oder des „Gentleman" oder, möchten wir hinzufügen, des „Sowjetmenschen" — sondern die Erziehung soll möglichst zwanglos den Menschen zur Entfaltung seiner eigenen, produktiven Anlagen hinführen und durch das dialogische Prinzip echter Gemeinschaft seinen Charakter bilden. „Jede echte Bildung ist Charakterbildung", sagt dieser menschliche Erzieher, der den Zwang entschieden ablehnt. „Aber der Gegenpol von Zwang ist nicht Freiheit, sondern — Verbundenheit." Das ist „Aufgeschlossenheit und Einbezogensein; Freiheit in der Erziehung — das ist Verbundenwerdenkönnen". Es ist kein letztes, kein wirkliches Ziel, wenn man nur an „Freiheit" der Erziehung denkt. Nur durch Verbundenheit findet der Mensch - die tausendfältige „Polyphonie seiner Anlagen" wieder — nur sie macht ihn am Ende zu dem, was dieser gläubige und gütige Prophet (der in seinem Äußeren wie in der Melodie seines Tonfalls und seiner Lehre mich immer an Rabindranath Tago-re gemahnte), in höchst undogmatischem Sinn mit einem Bibelwort andeutet: „zum Ebenbild Gottes."

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