Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Glaube oder Nichtglaube?
EINER DER LEHRER: „Wir schaffen ein neues Volk.“
MARTIN BUBER: „Wir schaffen? Oder wollen Sie sagen,' eine neue Nation wird geschaffen? ...“
EINER DER LEHRER: „In welche Richtung müssen wir unsere Blicke wenden?“
MARTIN BUBER: „Das heißt, Sie sind bereit, die Frage zu fragen? ... Nun müssen wir doch zu einem gemeinsamen Sehen kommen. Ich lernte aus meiner Erfahrung. Ich lebe doch schon 25 Jahre in diesem Land (Israel). Während dieser Zeit sah ich drei Generationen, die sich gerade in diesem Kriterium unterscheiden, über das wir sprechen. Die erste Generation lebte ein Leben von übertriebener Politisierung. Ich verstehe die Seele dieser Generation, doch bejahe ich sie nicht. Darnach kam eine Generation, die sich nicht nach der Partei richtete, sondern nach ihrem persönlichen Leben, obzwar es keine Karrieristen waren. Sie hatte auch ein gesundes Fundament — das Familienleben. Doch in den letzten Jahren, so scheint mir, erwacht etwas Neues. In Gesprächen mit jungen Leuten habe ich den Eindruck von Unbefriedigung im politischen Leben, vom Leben des Individuums und von der Familie. Es gibt ein Streben, Sehnsucht _ nach irgend etwas, das keinen Namen hat. Ich will nicht mit der Konzeption der Religion auftreten. Die Eigenschaft der Sehnsucht steht im Gegensatz zu solch einer Konzeption. Denn wenn ich sagen würde, machet es so oder so, würden sie antworten: .Sie meinen nichts anderes als Religion.' Doch die von etwas träumen, werden nicht kommen und sagen: ,Sage uns doch, was ist es?' Sie sind nicht so dumm.“
Die Frage ist: Glaube oder Nichtglaube? Denn Glaube ist keine Angelegenheit der puren Tradition. Es ist eine Angelegenheit der Wirklichkeit ... Kann man denn wirklich wissen, wie man die Zehn Gebote halten soll? Es kommt alles auf die richtige Situation an. Die Ehrung von Vater und Mutter nimmt in verschiedenen Situationen verschiedene Formen an. Dasselbe trifft auch bei ,Du sollst nicht morden!' zu... Denn die Situation erklärt die Wirklichkeit... Der Lehrer muß seinem Schüler die ■ Richtung zeigen, doch den Weg muß der Schüler allein finden. Man zeigt dem Menschen nur die Richtung, wenn er selbst diese Richtung einschlagen will... Der Lehrer hat Einfluß mit Hilfe'des - persönlichen Beispiels. Nicht das offen wahrnehmbare Beispiel, sondern das unwillkürliche Beispiel, denn der Schüler lernt nicht nur während der Unterrichtsstunde, sondern auch bei einem Treffen, Ausflug und im Spiel. Man muß wagen. Erst muß der Lehrer selbst seinen Weg gehen, denn alles im Leben basiert auf Wagnis. Wenn der Mensch heute Kinder zeugt, ist es ein Wagnis. Wenn man in unseren Tagen an Gott glaub — ist es ein Wagnis... Wenn Sie ir Ihrer Klasse Kinder von dei neuer Einwanderung haben (Kinder primitiver orientalischer Eltern) und Sic verhalten sich zu ihnen nach den Grundsatz ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!', ohne dies besonders zi betonen, so wird dieses persönlich! Beispiel Früchte tragen, denn die Hauptsache ist, wenn der Schülei sagt: ,Der Lehrer hat es doch gesagt!' “
EINER DER LEHRER: „In meinen Innern glaube ich, daß gute Erziehuni zur Identifizierung mit der Welt beiträgt.“
MARTIN BUBER: „Vielleicht kann man sagen: zum Humanismus.“
EIN LEHRER: „Zwar ist es so, doch bin ich in der Situation, in der ich erziehen muß: Wer dich töten will, dem komme zuvor und töte ihn!“
MARTIN BUBER: „Ich verneine es nicht, im Gegenteil, ich bejahe die Lage der besonderen Situation. Ich rede nicht über Grundsätze, sondern über Situationen. Doch die Situation von heute ist vielleicht nicht dieselbe wie die von morgen. Ich war zum Beispiel ein extremer Gegner der Lehre Ghandiis in allem, was unsere Angelegenheiten anging. Ghandi glaubte, daß es in der Welt von Hitler möglich war, seine Verteidigungsmethode anzuwenden (passive Resistenz). Es bestand zwischen uns eine Meinungsverschiedenheit, wie man eine bestimmte Situationen betrachten und beurteilen muß.“
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!