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Die Katze aus dem Sack

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Euphoriker, die sich für Politiker halten, haben in die deutschen Ostverträge den Anfang dessen hineingedeutet, was man gemeinhin den Austausch von Personen, Ideen und Informationen nennt; und von der Sicherheitskonferenz versprechen sie sich — und leider eben nicht nur sich, sondern allen Menschen in Ost und West — eine zunehmende Liberalisierung dieses Austauschs.

In der westlichen Welt ist ein solcher Austausch sozusagen ortsüblich: wer auf Sizilien grad keine Arbeit findet, verdingt sich nach Wolfsburg; wer von der FU Berlin genug hat, studiert an der Sorbonne weiter; wer der „New York Times“ überdrüssig geworden ist, abonniert die „Neue Zürcher“; und wer Radio Luxemburg nicht hören mag, schaltet auf den ORF um. So einfach geht das hier im kapitalistischen Westen, und genau so einfach ginge das auch im sozialistischen Osten, wenn — ja wenn der eben nicht sozialistisch wäre. Aber, wo der Fortschritt einmal ausgebrochen ist, bewegt sich alles nur noch im Gleichschritt, und wer aus der Reihe tanzt — und sei das der größte Tänzer der Welt —, gefährdet damit die Errungenschaften der Oktoberrevolution. Und damit niemand auf die Idee kommt, etwas von diesen Errungenschaften zu klauen und in den kapitalistischen Westen zu schmuggeln, um diesen, der ja dem Marxismus-Leninismus zufolge schon vor Jahrzehnten an sich selber zugrunde gegangen ist, wieder aufzupäppeln (zum Beispiel mit Niedrigstlöhnen, Streikverbot, Reisebeschränkungen, Pressezensur und so weiter): drum also haben die weisen Führer aller Werktätigen rund um das Arbeiter- und Bauernparadies einen Zaun von Stacheldraht gezogen. Ja, wirklich nur deshalb!

Denn gegen den Austausch von Personen, Ideen und Informationen haben sie nicht das geringste einzuwenden; im Gegenteil! Mannhaft fordern sie, daß die Kommunistin Angela Davis nicht nur nicht vor Gericht gestellt werden, sondern daß sie an den Universitäten der USA frei unterrichten darf. Mit gerechter Empörung registrieren sie die Tatsache, daß Sowjetagenten im Westen beschattet und fallweise sogar in ihre Heimat zurückgeschickt werden. Und ein heiliges Anliegen ist ihnen natürlich die Verbreitung der Schriften von Marx und Engels, von Lenin und (wahlweise) auch von Stalin und Mao in den kapitalistischen Ländern.

Aber damit dieser von den westeuropäischen Euphorikern so herzlich begrüßte Austausch für-derhin nicht gestört werde, will die Sowjetunion dessen Störungen stören dürfen: bei der UNO hat sie ein diesbezügliches Abkommen angeregt. Sie will verhindern, daß westliche Fernsehprogramme, sofern sie nicht die alleinseligmachende Ideologie zum Inhalt haben, über den Stacheldrahtzaun in das Friedenslager eingestrahlt werden. Denn das wäre kein Austausch, sondern Kriegshetze, und die das nicht einsehen wollen, sind Imperialisten, Faschisten, Militaristen und Revanchisten.

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