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Die Uhren ticken

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Als im April Zehntausende Mittelschüler in den Straßen der französischen Großstädte demonstrierten, hieß der Refrain „Der Frühling wird heiß, heiß, heiß!“ Verschüchterte Bürger stellten damals die Frage, ob mit einer Neuauflage des Mai 1968 zu rechnen sei. Zahlreiche Kommentare in der ausländischen Presse glaubten ebenfalls, eine ernste Krise voraussagen zu können. Demnach würden die Gewerkschaftsorganisationen diesmal nicht mit den Hochschülern, aber mit den Gymnasiasten eine Front bilden, was zumindest wochenlange Spannungen voraussehen ließ. Intimere Kenner der französischen Innenpolitik, besonders vertraut mit der Situation der Arbeitnehmerorganisationen, gelangten damals zu dem Schluß, daß eine neuerliche Staatskrise in diesem Kontext nicht zu erwarten sei. Die Gewerkschaften, viel stärker politisiert als im deutschsprachigen Raum, wollten nach der Schlappe der Linksparteien bei den Legislativwahlen eine Pause einlegen. Das Klima war eher auf Verhandlungen eingestellt, der Aufmarsch der 15-und 17jährigen versandete, da die arbeitende Welt keine Unterstützung gewährte. Es kam wohl in den Folgenden Monaten zu lokalen Auseinandersetzungen, eine kleine Straßenschlacht fand im Studentenviertel Quartier Latin zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten statt, aber der Boulevard Saint-Michel hatte schon Schlimmeres erlebt und man ging wieder zur Tagesordnung über.

Ganz anders ist es mit den Ereignissen, die seit dem 18. Juni die öffentliche Meinung bewegen. Zum ersten Male seit einem Jahrzehnt wurde der traditionelle soziale Sommerfriede durchbrochen und Diskussionen entfachten sich, die —

man muß nicht gerade Prophet sein — diesem Herbst scharfe Akzente verleihen werden. Wenn man von der Affäre des Uhrenwerkes Lip in Besancon spricht, so handelt es sich dabei nicht etwa um einen der üblichen Streiks oder um eine soziale Auseinandersetzung, die irgendein-mal ein Ende finden wird. Die Regierung ebenso wie die Opposition, das Unternehmertum und die Gewerkschaften sind sich bewußt, daß dieses Geschehen vollkommen die Beziehungen zwischen Arbeit und Kapital unter neue Perspektiven stellt. Niemals zuvor ist ein einzelner Betrieb derart zum Begriff geworden wie dieser Konzern, der eigentlich nur dazu bestimmt war, Uhren hoher Qualität zu erzeugen und diese möglichst preisgünstig an den Mann zu bringen. Ohne auf die Einzelheiten des langandauernden Konfliktes einzugehen, ist es doch erforderlich, einzelne seiner Elemente vorzustellen: Besagtes Uhrenwerk mit seinen 1300 Arbeitern und Angestellten war ursprünglich ein Familienunterneh-men, welches nach dem Zweiten Weltkrieg durch den damaligen Eigentümer Fred Lip vorzüglich modernisiert wurde. Der Inhaber zeigte sich überaus großzügig in sozialen Fragen, gewährte für die Branche fast utopische Lohnerhöhungen, benahm sich aber gleichzeitig auch als Messias freien Unternehmertums im hochliberalen Sinne. „Gott -und ich“ lautete seine Parole und er errichtete ein System des Nepotismus, welches den Organisationsformen eines modernen Betriebes nicht mehr entsprach. Jedenfalls leitete er den Betrieb in eine Krise und um einer Katastrophe auszuweichen, verkaufte er die Mehrheit seiner Anteile an eine Schweizer Holdinggesellschaft. Diese setzte einige Verwalter ein, und unter ihnen einen Herrn, der den sinnigen Namen Saintesprit (zu deutsch: Heiliger Geist) trug. Aber der Geist erleuchtete auch die neue Direktion nicht, sie versagte vollkommen und demissionierte ruhmlos. Niemand in Frankreich ist heute bereit, die verschiedenen Unternehmungsführungen zu entlasten oder auch nur zu entschuldigen. Auch die Herren des Industriellenverbandes leugnen nicht die Fehler ihrer Kollegen.

Vor diese dramatische Situation gestellt — ein Konkursverwalter wurde vom zuständigen Handelsgericht eingesetzt — griffen die Arbeiter zur Selbsthilfe. Sie begannen, die Produktion in eigener Regie wieder aufzunehmen ,und verwendeten dazu die der Konkursmasse gehörenden, auf Lager liegenden Ersatzteile. Darüberhinaus begannen sie, in direktem Verkauf die Uhren um 40 Prozent billiger abzusetzen, als dies dem Einzelhandel möglich war. Juristisch gesehen, vergriffen sie sich natürlich an der

Konkursmasse. Aber unterstützt von weiten Kreisen der öffentlichen Meinung und von der exchristlichen Ge-« werkschaftszentrale CFDT, erweiterten sie den Radius ihrer Aktion. Die Kommunisten und ihr Arbeitnehmerverband CGT folgten nur zögernd dem Beispiel ihrer exchristlichen Kollegen. Die streikenden Arbeiter, welche ihre Fabrik zunächst besetzt und dann mit Hilfe der Lagerbestände in Gang gebracht hatten, fanden Zustimmung beim Bischof, während die Regierung schwieg. Das Kabinett setzte einen Vermittler ein; um den Konflikt zu bereinigen, stattete aber diesen Spezialisten für notleidende Betriebe mit höchst ungenauen Vollmachten aus. Zum ersten Male in der franzö-

sischen Sozialgeschichte wurde die Selbstverwaltung eines Betriebes demonstriert, wie sie die CFDT auf ihrem Jahreskongreß 1973 postuliert hatte — allerdings mit Hilfe fremden Eigentums. Die Affäre Lip nahm nationale Dimensionen an, und trotz der Urlaubsepoche stieg der Grad der Widersprüche. Die Regierung glaubte, den gordischen Knoten durchhauen zu können und ließ in der Nacht vom 14. zum 15. August die Fabrikshallen durch 3000 Gendarmen besetzen. Die Ordnungshüter fanden 50 verschlafene Arbeiter vor, brutalisierten einige Journalisten, waren aber nicht in der Lage, die Produktion wieder in Gang zu setzen. Die Arbeiter hatten nämlich wichtige Bestandteile der Werkzeugmaschinen in Sicherheit gebracht und 60.000 Uhren als Kriegsbeute an einen sicheren Ort — dem Vernehmen nach in das Erzbischöfliche Palais — verlagert.

Ende des Monats August war die Situation in keiner Weise geklärt. Die Regierung will den Konzern Lip in vier autonome Gruppen zerlegen, ein Projekt, welches allerdings 400 Arbeitsplätze kosten würde. In Massenkundgebungen sprach sich die Industriearbeiterschaft des Landes gegen diesen Plan aus und nahm die Slogans der Lip-Belegschaft auf: „Keine Entflechtung, keine Entlassung!“

Die Angelegenheit zeigt sowohl politische wie prinzipielle Aspekte. Die beiden Linksparteien, Sozialisten und Kommunisten, welche seit den Wahlen wieder auseinandergerückt waren, fanden plötzlich wieder zusammen. Die Gaullisten sind insofern in einer Zwangslage, als sie durch Jahrzehnte den „Dritten Weg“ gepriesen haben, der jenseits von Kapitalismus und Marxismus den Bürgern und Arbeitern die Selbstverwaltung, die „Participation“ zusichert. Bisher hatte die Regierungsmehrheit keine Gelegenheit, dem Wähler dieses Programm der Participation an praktischen Beispielen zu demonstrieren. Wäre also noch die Gelegenheit gewesen, im Falle Lip und bei einem authentischen Versagen des Kapitals die Arbeiter zu unterstützen? Premierminister Messmer hat noch einige Tage vor dem Einsatz der Gendarmerie den Belegschaftsmitgliedern sein deutliches Verständnis ausgedrückt. An Stelle einer kühnen Lösung wurden aber stahlbehelmte Polizisten zum Einsatz gebracht, die nicht etwa die Unternehmungsleitung verhafteten, sondern die Arbeiter aus ihren Werkstätten vertrieben. Der starre Rechtsstandpunkt siegte über die Möglichkeit, neue Wege zur Mitbestimmung der Arbeiterschaft und zum Ausgleich mit dem Kapital zu finden. Unter diesen Gesichtspunkten gesehen, ist Lip kein einfacher Zwischenfall, der in den nächsten Wochen abgeklärt werden könnte. Hier wurden Fragen gestellt, die ohne Antwort blieben. Wieweit kann die Vertretung des Kapitals zivil-und strafrechtlich für schwere Fehler zur Verantwortung gezogen werden? Dürfen die Arbeitnehmer bestehende Rechtsgrundsätze verachten, sobald es darum geht, das Einkommen zahlreicher Familien zu sichern?

Der Bischof hat eindeutig zugunsten der Arbeiterschaft Stellung genommen. Von der Regierungsmehrheit wird er deshalb des Opportunismus verdächtigt. Aber wie immer wird die Lösung der nächsten Wochen aussehen wird, so sind sich alle Beteiligten im Klaren, daß LiD ein Fanal ist, welches die Orientierung der Unternehmer und der Gewerkschaften beeinflussen muß.

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