Der westliche Lebensstil befeuert Hungersnöte
Die These hält sich hartnäckig, dass Nahrungsmittelknappheit und Überbevölkerung miteinander einhergehen. Doch das ist falsch. Es gilt die globale strukturelle Ungleichheit in den Blick zu nehmen.
Die These hält sich hartnäckig, dass Nahrungsmittelknappheit und Überbevölkerung miteinander einhergehen. Doch das ist falsch. Es gilt die globale strukturelle Ungleichheit in den Blick zu nehmen.
6 0.000 Tonnen Getreide wurden bei einem Bombardement der Hafenanlagen in Odessa zerstört – nach dem russischen Stopp des Getreideabkommens hat das Thema Hunger erneut seinen Weg in die Schlagzeilen gefunden. Wieder einmal. Schon im vergangenen Jahr hat der Angriffskrieg den Getreidepreis in die Höhe getrieben und den Welthunger befeuert. Die Zahl der Menschen, die hungern, ist von 678 Millionen im Jahr 2019 auf 828 Millionen gestiegen. Der Krieg ist nicht der einzige Hunger-Treiber. Da war die Corona-Pandemie. Und da ist die Klima-Krise, die den afrikanischen Kontinent besonders hart trifft. Seit mehreren Jahren bleibt der Regen immer häufiger aus. Wenn es regnet, dann unwetterartig. Beides zerstört die Ernte. Die Lage verschärft sich in den Sommermonaten. Die Diakonie und andere Hilfsorganisationen thematisieren dies Jahr für Jahr.
Ich habe ziemlich genau vor einem für ein österreichisches Medium über die Hungerkrise in Ostafrika berichtet. Dort herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren. 82 Millionen Menschen hungerten 2022 – um 30 Millionen mehr Menschen als im Jahr davor. Ich habe auf die Gründe für Hungerkatastrophen hingewiesen und darauf, dass es mehr als genug Nahrungsmittel gibt für die acht Milliarden Menschen auf der Erde. Dass so viele Menschen hungern, liegt am ungleichen Zugang zu den Lebensmitteln. Die Reaktionen der Leserschaft waren ungewöhnlich zahlreich, und alle haben mir erklärt: Schuld am Hunger ist die Überbevölkerung in Afrika.
Im Schatten von T.R. Malthus
Der Mythos von der Überbevölkerung hält sich hartnäckig. Seit 225 Jahren. Er geht zurück Thomas Robert Malthus, der 1798 mit Blick auf England die These aufstellte, die Bevölkerung würde progressiv wachsen, die Nahrungsmittelproduktion hingegen nur linear. Die Folge seien Hungersnöte, die wiederum bewirkten, dass das Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Nahrungsmittel wiederhergestellt würde. Als Forderung leitete Malthus daraus ab, man dürfe den Armen nicht helfen und keine Sozialreformen durchführen, denn das würde das Bevölkerungswachstum vorantreiben. Sozialhistoriker gehen davon aus, dass Malthus’ These mit ausschlaggebend dafür war, dass die britische Regierung während der große Hungersnot in den 1840-iger Jahren in Irland der Laissez-faire-Ideologie folgte und nichts unternahm. Eine Million Menschen starben.
nahm. Eine Million Menschen starben. Malthus lag auf ganzer Linie falsch. Noch im 19. Jh. fanden die Hungersnöte in Europa aufgrund der Entwicklungen in der Landwirtschaft ein Ende. Wir wissen: Entwicklung führt zu höherem Lebensstandard und höherem Bildungsniveau und das wiederum zum Sinken der Reproduktionsrate. Last but not least werden heute genug Nahrungsmittel produziert, um die acht Milliarden Menschen auf der Welt – zur Zeit von Malthus lag die Weltbevölkerung noch bei einer Milliarde – zu ernähren. Es gibt sogar einen „Überschuss“ bei der weltweiten Kalorienproduktion von 24 Prozent, das zeigt der „Dietary Energy Supply-Indikator“ der Welternährungsorganisation FAO. Expert(inn)en gehen davon aus, dass die Erde auch zehn Milliarden Menschen ernähren kann – vorausgesetzt, wir entwickeln unsere Landwirtschaft weiter in Richtung klima- und ressourcenschonende Produktion.
Jeder zehnte Mensch auf dieser Welt hungert – und gleichzeitig werden jährlich 931 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet, 57 Millionen davon in Europa, eine Million in Österreich. Hunger ist ein Problem globaler struktureller Ungleichheit. Zur Verteilungsproblematik gehört auch der Ressourcenverbrauch in der Lebensmittelproduktion. Am Beispiel tierischer Produkte lässt sich dies plastisch verdeutlichen: Rund 15 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen gehen auf das Konto der Nutztierhaltung. Nur 33 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche wird für den Anbau von Pflanzen für den menschlichen Verzehr genutzt, auf 67 Prozent der Fläche wird Tierfutter angebaut. Fläche, für die Wälder gerodet werden, die CO₂ binden könnten.
Schuldgefühle, die ausgelöst werden
Um eine Kalorie tierischer Produkte zu produzieren, müssen drei bis zehn pflanzliche Kalorien eingesetzt werden – Kalorien, die direkt zur Ernährung von Menschen dienen könnten. Soja zum Beispiel: 87 Prozent des weltweit angebauten Sojas wird an Tiere verfüttert und nur 13% zu Lebensmitteln verarbeitet. Soja und Fleisch haben eines gemeinsam: Sie sind Eiweißlieferanten. Aus der Menge Soja, die man für ein Kilogramm Rindfleisch braucht, können 14 Kilogramm Tofu hergestellt werden. Klar, nicht jeder mag Tofu. Ich persönlich esse auch ein Mal die Woche Fleisch. Aber die Vorstellung, dass wir in Österreich 60 kg Fleisch pro Kopf im Jahr verzehren, stimmt mich doch nachdenklich. Das ist in etwa mein Körpergewicht. Und wenn ich dann noch bedenke, dass auf der Fläche, die man für die Produktion dieser 60 kg Fleisch braucht, Getreide für mindestens 420 Kilo Brot angebaut werden könnte … Hunger hat eben auch mit unserem Lebensstil zu tun. Sich das vor Augen zu führen, ist, nun ja, sagen wir: nicht gerade angenehm. Löst Schuldgefühle aus. Ruft nach Umverteilung. Es ist wohl leichter, die Armen in Afrika als Problemverursacher zu sehen. Deshalb hält sich der Mythos von der Überbevölkerung als Grund für den Hunger so hartnäckig.
Die Autorin ist Direktorin der Diakonie Österreich und evangelische Pfarrerin.
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