Der Mensch als Ursache

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Der Hunger stellt ein immer wiederkehrendes Problem der Menschheit dar. Zur Hauptursache wurde im Laufe der Geschichte immer mehr der Mensch.

Der große Hunger im 20. Jahrhundert wurde gemacht. So kann man - wohl etwas pointiert - die Charakteristik vieler großer Hungersnöte des letzten Jahrhunderts interpretieren. Mit anderen Worten: Große Hungerkatastrophen sind im 20. Jahrhundert meist keine "acts of god", als vielmehr "acts of man". Mit einigen wenigen thesenhaften "Randbemerkungen" soll in der Folge versucht werden, wichtige Aspekte dieser Hungergeschichte aufzulisten. Dass es sich dabei nur um wirtschafts- und sozialhistorische "Brosamen" handeln kann, ist naheliegend.

Hunger stellt ein beinahe "ahistorisches", im Sinne von immer wiederkehrendes Menschheitsproblem dar. Große Hungerkatastrophen begleiten die Menschheitsgeschichte seit vielen Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, bis herauf in die Gegenwart. Im gesamten 20. Jahrhundert gab es nicht ein Jahrzehnt, das frei von einer großen Hungersnot war.

Stille Katastrophe

Auch unter dem Aspekt der Dimension des Hungers hat sich nichts verbessert. Heute leben mehr Menschen in absoluter Armut (alleine 1,2 Milliarden haben nicht mehr als einen us-Dollar pro Tag) als vor 100 Jahren überhaupt die Erde bevölkerten. Ein Großteil von ihnen hungert.

Hunger ist eine stille Katastrophe. Ein großer Teil der Verhungerten kann dem Archiv des Schweigens nicht entrissen werden. Selbst das Aufdecken mancher großer Hungersnot dauerte Jahre, ja Jahrzehnte. Hungernde und Verhungernde haben bis zum heutigen Tag keine Lobby. Zudem ist die Geschichte des Hungers - so meinten die beiden Forscher Sara Millman und Robert Kates einmal - großteils ungeschrieben, denn "die Hungernden schreiben kaum Geschichte und die Historiker sind selten hungrig".

Die statistische Dimension der Totenbilanz von Hungersnöten ist bedrückend. Nimmt man nur die größten Katastrophen, sind allein im 20. Jahrhundert weit über 100 Millionen Hungertote zu beklagen. Sie stellen allerdings nur einen Bruchteil aller Hungeropfer dar, denn an "strukturellem Hunger" und dessen Folgen sterben alleine zurzeit Jahr für Jahr 6 Millionen Menschen, wobei diese Zahl die geschätzte Untergrenze darstellt.

Vielfältige Ursachen

Die Ursachen sind vielfältig, blieben aber vielfach ähnlich: Haupthungerursache wurde immer mehr der Mensch selbst (vor allem der gewalttätige Mensch). Mögen in den Jahrhunderten vor der Industriellen Revolution und auch noch im 19. Jahrhundert die durch Naturkatastrophen verursachten Hungersnöte viel häufiger gewesen sein, im 20. Jahrhundert hätte der Mensch infolge großer technologischer Errungenschaften im Agrar- und Verkehrssektor den großen Hunger hintanhalten können. Die Hungersnöte waren somit gerade in den letzten Jahrzehnten keine "Acts of God", sie waren vielmehr "Acts of man". Dabei spielten Unfähigkeit (oder gar Absicht) eine entscheidende Rolle. Die Engpässe bei Nahrung entsprangen somit nicht den "Grenzen des Wachstums", sondern waren unbewusste oder bewusste Fehlentscheidungen des homo oeconomicus und des homo politicus. Oft war Nicht- oder zu spätes Agieren eine Haupthungerursache.

Planwirtschaften erwiesen sich dabei als besonders schlechte Hungerbekämpfer. Die udssr, China, Kambodscha, Nordkorea, etc. wären hier zu nennen. Die "Paradiese auf Erden" verkamen oft zu reinen "Höllen" der Unterwelt des Hungers.

Als schlimmste Katastrophe im 20. Jahrhunderts ist wohl die chinesische Hungersnot unter Mao Tsetung (1958-62) zu nennen. Sie war eine Folge des "Großen Sprungs nach vorn", der nach einigen harten Arbeitsjahren dem chinesischen Volk ein "Zehntausend-jähriges" Schlaraffenland bringen sollte. Mit einem gesellschaftspolitischen Gewaltakt wollte man damals China praktisch über Nacht von einem armen Agrarstaat in einen modernen Industriestaat umwandeln. De facto war es ein Sprung in eine Hungersnot, die 15 bis 75 (man beachte die Differenz) Millionen Menschen den Hungertod gebracht haben soll. Es dauerte circa zweieinhalb Jahrzehnte, bis der Westen überhaupt von dieser Katastrophe erfuhr. In vielen einschlägigen Hungerchroniken fehlt das Desaster bis heute.

Wenngleich die eben erwähnten planwirtschaftlichen (kommunistischen) Systeme einige der größten Hungersnöte des Jahrhunderts verursachten, so ist die im vieldiskutierten "Schwarzbuch des Kommunismus" aufgestellte These falsch, dass nach 1918 große Hungersnöte nur "in kommunistischen Ländern ... auftraten". Auch andere diktatorische Systeme bedienten sich des Nahrungsmittelentzuges.

Spitzenreiter China

Versucht man die größten Hungerverursacher des 20. Jahrhunderts zu "personifizieren", so sind vor allem die Namen der drei größten Massenmörder zu nennen: Stalin, Hitler und Mao Tsetung (die Reihung erfolgt nach den Geburtsdaten). Auf ihr Konto entfallen Dutzende Millionen Hungertote.

Notwendige Bedingungen für Hungerbekämpfung sind Frieden und Demokratie beziehungsweise demokratische Rechtsstaatlichkeit. Dass Kriege eine Schlüsselrolle der Hungerursache darstellen, wurde vielfach bestätigt. Hunger und Krieg sind siamesische Zwillinge.

Hunger in den USA

Auch in den "Marktwirtschaften" ist das Problem des Hungers nicht endgültig gelöst. Selbst in einem der reichsten Länder dieser Erde, den usa, hungern Millionen von Menschen. Dabei sind unter den Hungernden nicht nur Arbeitslose und Obdachlose zu finden, sondern auch eine große Zahl von Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit ihre Familien nicht mehr ernähren können. Fast 40 Prozent derjenigen, die Ende des letzten Jahrhunderts in den usa auf Lebensmittelhilfe angewiesen waren (1997 über 21 Millionen Personen), arbeiteten regulär.

Dass selbst in den usa gegenwärtig Hunger grassiert, weist auf ein weiteres wichtiges Schlüsselproblem des Hungers hin, die Verteilung. Hungern und Verhungern sind immer auch ein Verteilungsproblem. Dies gilt sowohl für den strukturellen Hunger, als auch für Zeiten großer Hungerspitzen. Nie hungern und hungerten alle, nie alle gleich stark. Besonders stark betroffen sind meist die schwächsten Glieder der Gesellschaft: Kinder, Alte und Kranke, diskriminierte Gruppen (zum Beispiel Menschen mit schwarzer Hautfarbe), sowie Frauen. Dies war in historischen Zeiten so und gilt bis zum heutigen Tag.

Bisweilen ist ein ungeheurer Zynismus im Bereich des Hungers anzutreffen. Immer wieder wird berichtet, dass mitten in der extremsten Hungersnot Ghettos entstehen, in denen man in Hülle und Fülle lebt. Erwähnt sei als Beispiel nur das verhungernde Leningrad (im Jahr 1941 und danach), wo korrupte Genossen sich mit Rumkugeln labten, während weniger Privilegierte sich gegenseitig auffraßen.

Zu den zynischsten Formen gehört andererseits auch der Hungerterror in seinen verschiedensten Formen. Nicht vergessen sei diesbezüglich der Versuch unter den Nazis, die Hungerfähigkeit des Menschen bis hin zum Hungertod medizinisch-wissenschaftlich zu testen und zu analysieren. Versuche, die auch im kz-Mauthausen vorgenommen wurden.

Bleibt als trauriges Schlussresümee noch eine Feststellung, dass selbst der Hungerkannibalismus nicht ausgerottet werden konnte. Beinahe alle großen Hungersnöte des 20. Jahrhunderts endeten im Kannibalismus.

Hunger-Kannibalismus

Der Historiker Jürgen Teuteberg merkte zu den Hungersnöten in Mitteleuropa der 1840er Jahre an, dass kein Kannibalismus, der "vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert immer wieder bezeugt ist", mehr überliefert wurde. Das heißt aber nun keineswegs, dass dieses Phänomen für immer beseitigt war, ganz im Gegenteil. Das Auffressen der eigenen Artgenossen begleitete die großen Hungerkatastrophen bis herauf in die Gegenwart. Darin unterscheidet sich das 20. Jahrhundert - wie auch in vielen anderen Bereichen der Katastrophengeschichte - nicht von früheren Jahrhunderten.

Der Autor ist Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck.

BUCHTIPP:

GEWALT.MACHT.HUNGER

Schwere Hungerkatastrophen seit 1845.

Von Josef Nussbaumer.

Studien Verlag, Innsbruck 2003.

304 Seiten, kart., e 30,90

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