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Gewissen der Zeit

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In eine gewissensentfremdete Zeit die Frage nach der Gewissensnotwendigkeit stellen, mit dieser Thematik ihrer diesjährigen Tagung haben die Verantwortlichen der Reinhold-Schneider-Gesellschaft, an ihrer Spitze der Vorsitzende Heinrich Ludewig, zu verstehen gegeben, daß ihr Ziel nicht in erster Linie die Wiederbelebung des dichterischen Werkes ist, sondern die Rückgewinnung seines geistigen Erbes für unsere Zeit. Der Widerhall, den der erste Aufruf vor Jahresfrist gefunden hat — die Gesellschaft zählt heute bereits mehr als 400 Mitglieder —, vor allem das Mitgehen der jungen Generation auf einer ersten Arbeitstagung in Karlsruhe, der im September eine zweite in Freiburg folgen soll, mit Referenten aus Straßburg, Stockholm und den USA, bestärkt die Initianten, die eingeschlagene Richtung weiter zu verfolgen.

So war denn die diesjährige, in einzelnen Veranstaltungen stark besuchte Tagung, der wiederum von der Stadt der Festsaal des „Kaufhauses“ am Münsterplatz zur Verfügung gestellt war, recht eigentlich eine Arbeitstagung, die unter dem Mahnwort des Dichters stand: „Was ist Freiheit, wenn nicht eine Tat unseres Gewissens? Was ist Gewisen, wenn nicht das Wissen von der Verantwortung für das Ganze der Schöpfung — vor dem, der sie geschaffen hat?“

Heute stellt sich die Frage, ob Reinhold Schneider in den Jahren der Erniedrigung und Zerstörung mdt seinen Rufen nur ein Tröster für die Bedrängten war und sie in ihrem Widerstand ermutigte, und ob er, da nun äußerlich die Trümmer weitgehend beseitigt sind, nur noch als lästiger Mahner empfunden und überhört wird, oder ob für die noch zu vollziehende Umwandlung nicht gerade aus seinem Werk die Richtlinien für ein sinnvolles Verhalten zu gewinnen wären. Die Parolen, die zu einem geschdchtslosen, die Vergangenheit verleugnenden Dahinleben ermutigen, treffen auf nur zu willige Ohren. Wenn über der Neuaufrichtung einer äußeren Ordnung und in der Befriedigung über das im Bereich des Materiellen Erreichte der Läuterungsprozeß, der allein eine wirkliche Umkehr verspricht, unterblieben ist und sich vor seiner Notwendigkeit die Augen an ihrer Verblendung verschließen, so stellt sich die Frage, ob damit nicht die Zukunft verwirkt ist.

Ist es endgültig zu spät, oder ist noch immer eine Möglichkeit dazu offen, daß die Menschen aus dem Bewußtsein ihrer solidarischen Verantwortung im Weltzusammenhang sich ihres sittlichen Auftrags entsinnen? Kann die Erkenntnis, daß nur durch eine Gewissensvertiefung und nicht durch eine rein intellektuali-stische Bewußtseinsänderung mit materieller Zielrichtung eine Umwandlung der Gesellschaftsordnung bewirkt werden könnte, Allgemeingut werden, oder wird sie weiterhin utopische Forderung eines nicht nur geheimen, sondern vollständig verborgenen Deutschland bleiben? Wird sich an der richtigen Beantwortung dieser Frage nicht das Schicksal des Abendlandes entscheiden, das sich zwischen die beiden Gewalten des Kapitalismus und des Marxismus gestellt sieht? Wird es die Kraft finden, diese beiden Unmächte zu überwinden?

Vertieft wurden diese aphoristisch angeschlagenen Überlegungen in den drei Vorträgen des ersten Tages. Zunächst von Prof. Dr. Josef Ratzinger aus Regensburg, der in seinem Vortrag „Das Gewissen in der Zeit“ die Parallele der heutigen Sitation zu 1933 aufzeigte, ja geradezu eine Einheit zu erkennen glaubt in dem Bund des Nihilismus mit dem Elend, der nur trügerisch die Drohung des Totalitären verdecke, unsere größte Gefahr. Ist aber das Gewissen wirklich eine Macht, oder ist es ein zerbrechliches, todgeweihtes Wesen, eine sinnlose Träumerei?

Prof. Dr. Fridolin Stier aus Tübingen unterstrich die Notwendigkeit eines Geschichtsbewußtseins, wie es in Reinhold Schneider besonders lebendig war bis ins Prophetische. Indem er Unruhe in den Gewissen stiften wollte, gab er mit dem Ärgernis zugleich Weisungen in die Zeit. Der Geist müsse sich immer mächtiger erweisen als der Ungeist der Macht. Prof. Dr. Peter Berglar deutete in seinem Vortrag „Staats-raison und Christus-Nachfolge“ die Dichtung „Las Casas vor Karl V.“, 1938 erstveröffentlicht, als Absage an das Ungeistregime, als Impuls zur Erreichung des Möglichen, wobei Idee und Wirklichkeit in der Erlösungssehnsucht erst ihre Bewährung erfahren.

Aus solchem Wissen handelte der Franziskanerkonventuale Maximilian Kolbe, der vor 30 Jahren in Auschwitz sein Leben hingab, um das Leben eines zum Tode verurteilten polnischen Familienvaters zu retten. So hat die Reinhold-Schnei-der-Gesellschaft den Namen des Paters mit dem des Dichters verbunden bei der Einsetzung zweier Preise, eines Studien- und eines Literatur- und Kunstpreises. Wie der evangelische Theologe Professor Dr. Peter Meinhold aus Kiel bei der Ankündigung dieser Preisstiftung ausführte, will die Gesellschaft im Bewußtsein der dreifachen Solidarität des Schmerzes um das in der Vergangenheit Verübte, der Schuld, die er als eine Art „Erbschuld“ bezeichnete, und der politischen Verantwortung vor der Zukunft, einen Beitrag leisten „zur Weckung der Gewissen, zu ihrer Mitwirkung bei der Gestaltung des gesellschaftlichpolitischen Lebens, also zu einem bewußten Wahrnehmen der Verantwortung“.

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