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Gibt es christliche Literatur?

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Vierzig Jahre Arbeit stecken hinter dem „Lexikon der christlichen Weltliteratur” von Gisbert Kranz, und das bedeutet auf gut biblisch die Arbeit eines ganzen Menschenlebens. Der 1921 in Essen geborene und jetzt in Aachen lebende Autor, der Theologie und Literaturwissenschaft studierte, hat sich mit dem „Thema seines Lebens”, also mit der Frage des Gegenübers und Zueinanders der Bereiche des Christlichen und des Literarischen, in vielerlei Publikationen befaßt; einige davon - wie „Christliche Literatur der Neuzeit” (1959) und „Christliche Literatur der Gegenwart” (1961) oder „Europas christliche Literatur von 500 bis 1500” (1968)-erreichten mittlerweile den Rang von Standardwerken. Das Lexikon bedeutet nunmehr die Summe all dieser Auseinandersetzungen mit dem Problem: das Material ist nicht nur alphabetisch geordnet, sondern auch - wie man durch einen Textvergleich aus der „Christlichen Literatur der Neuzeit” mit entsprechenden Passagen im Lexikon überprüfen kann - gestrafft und auf den neuesten Stand gebracht.

Der Hauptteil des Lexikons behandelt knapp 200 Autoren in eigenen Artikeln, aber mehr als zehnmal so viele Autoren werden - mit größerer oder geringerer Ausführlichkeit - in Querverweisen, Zusammenfassungen, Anmerkungen oder Literaturangaben besprochen. Deshalb ist das 39 Spalten lange Namensregister am Ende des Lexikons (von Aafjes bis Zwingli) zweifellos der informationsstärkste Teil des gesamten Werkes.

Das Kapitel „Christliche Literatur - Epochen, Sprachen, Gattungen”, stellt dem Benutzer quer- und längsschnittartige Informationen zur Verfügung, und das Einleitungskapitel „Christliche Literatur - Begriff, Rezeption, Relevanz” liefert schließlich die theoretische Erörterung des vorausgesetzten Begriffes einer christlichen Literatur - also den springenden Punkt des ganzen Unternehmens.

Gisbert Kranz ist ein viel zu kluger Pragmatiker, um nicht zu wissen, daß er in Teufels Küche kommt, wenn er sich auf eine exakte, scharf abgrenzende Definition der Christlichen Literatur einläßt, und daß er Teufels Küche nimmer verlassen würde, entschlösse er sich nicht, den Begriff möglichst wenig eng zu fassen. Seine These lautet deshalb: „Christliche Literatur ist Schrifttum, gleich welcher Gattung und welcher Thematik, das aus christlichem Verständnis von Gott, Mensch und Welt entstanden ist und ohne Berücksichtigung dieses christlichen Verständnisses nicht adäquat interpretiert werden kann.” Allerdings ist Gisbert Kranz andererseits auch ein viel zu kluger Theoretiker, um nicht zu durchschauen, daß eine Klinge nicht taugt, wenn am Ende unterschiedlos alles - ausnahmsweise sogar im wahrsten Sinn des Wortes Gott und die Welt - ohne Schwierigkeiten über dieselbe Klinge springt. Weshalb er zugibt: „Es liegt auf der Hand, daß der Begriff .christliche Literatur* unscharf ist.”

Nicht die Tatsache, daß Gisbert Kranz mit dem unscharfen Begriff operiert, verdient Kritik, sondern die Art und Weise, wie er versucht, den Begriff gegen seinen geschichtlich nun einmal erfolgten Verfall aufrecht zu erhalten und irgendwie zu „retten”. Statt der normativen Kraft des Faktischen (Christliche Literatur ist eine historische Kategorie) anzuerkennen, postuliert Kranz mit seinen Argumentationen eher so etwas wie eine faktische Kraft des Normativen: wenn sich Christliche Literatur denken läßt, muß es sie auch geben.

Dabei schmälert es keineswegs das Verdienst des Kranz’schen Lebenswerks und erübrigt keineswegs die Existenz des vorliegenden Lexikons, wenn man einigermaßen nüchtern feststellt: Die Christliche Literatur - im alten Sinne - trägt neuerdings äußerst wenige Früchte. Und auch diese These ist längst schon historisch. Seit einem Jahrzehnt (1969 erschien ein Heft der Internationalen

Dialog-Zeitschrift „Zur Problematik theologischer Literaturkritik”) diskutiert man die Fragestellungen im Dialog zwischen Theologie und Literatur qualitativ neu; davon findet sich bei Kranz leider nichts. Zwar kann man bei ihm lesen, wie sich um die Mitte unseres Jahrhunderts die Begriffe „katholische Literatur” und „evangelische Literatur” in die zur Diskussion stehende, konfessionell nicht eingeschränkte „christliche Literatur” verwandelten, aber daß der Prozeß der Säkularisierung hier keineswegs zwanzig Jahre Rast hielt, sondern in der Folge sowohl durch theoretische Debatten (stellvertretend für viele Namen: P. K. Kurz, D. O. Schmalstieg, D. Solle, K. Lüthi) als auch durch die Praxis von Autoren, die ursprünglich noch als „christliche Schriftsteller” begonnen haben (z. B. Heinrich Böll oder Friedrich Dürrenmatt) die christliche Literatur an ihren historischen Ort verwiesen wurde, bleibt bei Gisbert Kranz ausgeblendet.

Dennoch soll das große Werk ausdrücklich in Schutz genommen werden. Gisbert Kranz, der vermutlich alles, was nur irgendwie einschlägig mit Christentum und mit Literatur zu tun hat, kennt wie kein zweiter, hätte ja auch noch viel pragmatischer Vorgehen können und die theoretische Debatte ganz weglassen dürfen. Ich weiß auch ohne sie, was ich in seinem „Lexikon der christlichen Weltliteratur” zu suchen habe und finden werde.

Und gefunden habe! Denn, um den hohen Gebrauchswert des Buches zu unterstreichen: ich habe das Lexikon, ehe ich es als Ganzes las, bereits eifrig benutzt. Und es tut wenig zur Sache, wenn ich zum Beispiel feststelle, daß Dante keinen eigenen Artikel hat, während eine epigonale Erscheinung wie z. B. Kris Tanzberg, sehr wohl; denn einerseits will ich mit Gisbert Kranz nicht über Geschmack streiten, und andererseits ist es natürlich klar, daß in einem Werk wie dem vorliegenden Schwerpunkte gesetzt werden müssen: und einer der Schwerpunkte heißt eben Neuzeit. Was das Mittelalter betrifft, so verweist Kranz im Vorwort auf sein Werk „Europas christliche Literatur von 500 bis 1500”. Und es tut auch wenig zur Sache, daß ein anderer Schwerpunkt die Deutschspra- chigkeit ist und daß man, die Liste der Namen der Autoren durchblätternd, den Eindruck gewinnt, die christliche Weltliteratur sei vor allem eine deutsche Angelegenheit.

Viel zur Sache tut es allerdings, daß dieses Lexikon das Werk eines einzelnen ist. Immer wieder kann einen Staunen überkommen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß dies alles nicht von einem riesigen Mitarbeiterstab zusammengetragen wurde, sondern daß sich Gisbert Kranz selber jede Einzelheit dieses dickleibigen Buches höchstpersönlich erarbeitet hat. Man stelle sich vor, wie andererseits selbst das cleverste Redaktionsteam hilflos gegen die Uferlosigkeit des Themas anzurudem gehabt hätte! Entscheiden, was hineinkommt und was nicht - das kann in solchem Fall doch eher ein einzelner, ein unermüdlicher einzelner in jahrzehntelanger Arbeit.

LEXIKON DER CHRISTLICHEN WELTLITERATUR. Von Gisbert KRANZ. Verlag Herder, Freibur g-BaseU-Wien 1978, 560 Seiten, öS 764,40.

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