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In Freiheit bedroht

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Alle Jahre wieder setzt sich das intellektuelle Österreich nach Alpbach in Bewegung. Worüber im Lauf des Europäischen Forums gesprochen wird, wer was gesagt hat, erfährt der Rest Österreichs vorzugsweise aus Zeitungsberichten, die kaum mehr als ein paar Stichworte aufzählen können. Schon sie lassen erahnen, daß in Alpbach nicht, wie bei so vielen Gelgenheiten, nur geredet, sondern auch immer wieder einmal tatsächlich etwas gesagt wird. Darum sei hier darauf hingewiesen, daß die Referate des Europäischen Forums 1976 mittlerweile in einem handlichen Sammelband vorliegen: „Zu den Grenzen der Freiheit“, 384 Seiten, Verlag Molden. Während heuer, im 33. Jahr des Europäischen Forums, vor insgesamt 1000 Teilnehmern unter dem Generalthema „Konflikt und Ordnung“ in 15 Arbeitsgemeinschaften und einem Ballett-Workshop unter anderem Themen wie „Strategien zur internationalen Konfliktregelung“ abgehandelt werden, haben die Vorträge des Vorjahres (Thema: „Grenzen der Freiheit“) nichts von ihrer Aktualität verloren. Wir entnehmen dem Band, auszugsweise, was Marcel Reich-Ranicki über „Die Bedrohung der Literatur“ zu sagen hatte:

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Alle Jahre wieder setzt sich das intellektuelle Österreich nach Alpbach in Bewegung. Worüber im Lauf des Europäischen Forums gesprochen wird, wer was gesagt hat, erfährt der Rest Österreichs vorzugsweise aus Zeitungsberichten, die kaum mehr als ein paar Stichworte aufzählen können. Schon sie lassen erahnen, daß in Alpbach nicht, wie bei so vielen Gelgenheiten, nur geredet, sondern auch immer wieder einmal tatsächlich etwas gesagt wird. Darum sei hier darauf hingewiesen, daß die Referate des Europäischen Forums 1976 mittlerweile in einem handlichen Sammelband vorliegen: „Zu den Grenzen der Freiheit“, 384 Seiten, Verlag Molden. Während heuer, im 33. Jahr des Europäischen Forums, vor insgesamt 1000 Teilnehmern unter dem Generalthema „Konflikt und Ordnung“ in 15 Arbeitsgemeinschaften und einem Ballett-Workshop unter anderem Themen wie „Strategien zur internationalen Konfliktregelung“ abgehandelt werden, haben die Vorträge des Vorjahres (Thema: „Grenzen der Freiheit“) nichts von ihrer Aktualität verloren. Wir entnehmen dem Band, auszugsweise, was Marcel Reich-Ranicki über „Die Bedrohung der Literatur“ zu sagen hatte:

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Wo ist, frage ich, in der Bundesrepublik, in Österreich oder in der deutschsprachigen Schweiz der Roman, der nicht erscheinen konnte, weü die Grenzen der Freiheit zu eng sind? Wo sind die Gedichte, die man nicht drucken darf, weü die Inhalte dem Staat nicht genehm sind? Wo ist das rebellische Theaterstück, das man nicht aufführen kann? Die Theater in der Bundesrepublik, zum nicht geringen Teil von LinksintellektueUen geleitet, warten auf diese Stücke …

Ist also die Freiheit des Wortes in der Bundesrepublik unbegrenzt? Tabus werden dringend benötigt, aber es ist immer schwerer, sie zu finden. Einer der großen Verläge plant angeblich ein Inserat: Für unsere jungen Autoren suchen wir dringend Tabus. Es gibt nur noch ein Tabu, nämlich: daß es keine Tabus mehr gibt. Die Freiheit ist vollkommen, aber wird von dieser Freiheit auch Gebrauch gemacht? …

Böll hat vor Jahren gesagt: Die Literatur muß zu weit gehen, um zu sehen, wie weit sie gehen kann. Unserer Literatur ist vorzuwerfen, daß sie nicht zu weit geht. Hans Magnus Enzensberger sprach vor einigen Monaten in Frankfurt über die Selbstzensur der Autoren, und er meinte vor aUem jene der linken SchriftsteUer. Er selber habe ein Buch über Kuba geschrieben, aber es nicht publiziert, weil er fürchtete, damit den Linken zu schaden. Die Befürchtung, jemandem zu schaden, bei jemandem anzuecken - nicht unbedingt in Bonn, vielleicht auch bei der DKP -, macht unsere Literatur oft schwach und fragwürdig.

Wie also? Die Freiheit ist vollkommen, und nur die Schriftsteller sind die Sündenböcke? Die Freiheit, meine ich, ist unbegrenzt, aber das Wort ist bedroht. Was heißt das? Ich möchte Sie auf einige Faktoren hinweisen, die die Freiheit des Worts in der Bundesrepublik einschränken. Immer wieder ist die Existenz des freien Schriftstellers in diesem Lande gefährdet. Der Staat tut nichts, um die Existenz zu erleichtern, viel, um sie zu erschweren. So werden in der Bundesrepublik - anders als in den meisten westeuropäischen Ländern - die SchriftsteUer von den Finanzämtern nach wie vor wie Unternehmer behandelt: Sie müssen Umsatzsteuer zahlen.

Die Freiheit des Worts ist gefährdet, weü es nicht genug Publikationsorgane gibt. Es gibt immer weniger Zeitungen, die Literatur drucken. Die wenigen Zeitschriften haben meist kleine Auflagen und existieren kümmerlich. Es fehlen Organe für die Kritik der Literatur. Die Zeitungen, die in der Bundesrepublik Platz für die Auseinandersetzung mįt der Literatur haben, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Ferner: Das Interesse des Publikums für die Literatur verkümmert. Daran sind auch die Schriftsteller schuld, aber nicht nur sie. An vielen Schulen in der Bundesrepublik ist das Niveau des Deutschunterrichts schlecht. Statt sich mit der ernsten Literatur zu befassen, beschäftigt man sich allzu häufig mit der Trivialliteratur. Die Analyse der Trivialliteratur ist so nötig wie die Kotanalyse für die Medizin. Wenn aber die Schüler ihre Schule verlassen und über die Courths-Mahler informiert sind, doch nicht über Thomas Mann- dann ist das ein Skandal.

Die gute Literatur hat seit eh und je einen gefährlichen Feind: Es ist die schlechte Literatur, die die bessere verdrängen möchte. Verleger versuchen mit Hilfe einer gigantischen Werbung die miserabelste Literatur dem Publikum aufzuzwingen. Ich denke nicht daran, alle Verleger auf die Anklagebank zu setzen. Aber der Einfluß jener, die die allerdümmste Literatur mit großem Reklameaufwand der Nation anbieten - und leider nicht ohne Erfolg -, wird immer größer. Kleine, literarisch ambitionierte Verlage haben es in der Bundesrepublik immer schwerer, die Konzentration im Verlagswesen ist eine wenig erfreuliche Erscheinung. Der Kampf gegen die schlechte Literatur ist der wahrscheinlich wichtigste Teil des Kampfes um die Freiheit der Literatur überhaupt.

So mag die Freiheit des Wortes unbegrenzt sein, aber die Literatur ist dennoch bedroht. Was geht daraus hervor? Es ist unsere Aufgabe, dem Staat mißtrauisch auf die Finger zu sehen, damit von der vorhandenen Freiheit kein Zentimeter verlorengeht. Es ist unsere Aufgabe, sich immer wieder jenen Faktoren zu widersetzen, die die Literatur gefährden - also dem Staat, der die Existenzgrundlage der freien Schriftsteller und der kleineren Verlage einengt, also den Schriftstellern, die allzu vorsichtig sind, also den Verlegern, die mit großem Werbeaufwand schlechte Literatur propagieren, also den Theatern, die (gemeinsam mit den Volksbühnen) immer häufiger den Zarewitsch und die Lustige Witwe anbieten, also dem Rundfunk, der immer weniger Platz für die Literatur hat, also dem Fernsehen, das viel für die Literatur tut, aber gleichzeitig dazu beiträgt, den Geschmack des Publikums zu verderben. Und da hier einer zu Ihnen spricht, dessen Metier die Kritik ist, woüen wir nicht vergessen zu sagen, daß auch den Kritikern auf die Finger gesehen werden soüte - zumal den Kritikern, die so gern jenen schmeicheln, die an der Macht sind, die GefäUigkeitskritiken schreiben.

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