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K. u. k. Kassandra der Gen-Manipulation

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Kaum jemand kommt noch auf die Idee, den Sinn naturwissenschaftlicher Forschungstätigkeit, so wie sie heute rund um den Globus allenthalben betrieben wird, anzuzweifeln. Vor allem kaum jemand, der selbst an diesem Forschungsbetrieb beteiligt ist. Dabei fallt diese Tabuisierung der auf breiter Front mit ungeheuren Geldmitteln hektisch vorangetriebenen Forschungstätigkeit kaum mehr auf. Um so überraschender die Position, die der aus Österreich stammende amerikanische Biochemiker Erwin Chargaff in seinen Lebenserinnerungen „Das Feuer des Heraklit - Skizzen aus einem Leben vor der Natur“ bezieht.

Er stellt keineswegs nur die Zweckmäßigkeit der Methoden in Frage, sondern die Sinnhaftigkeit des gesamten Unterfangens. Er tangiert das, was wir „moderne Naturwissenschaft“ nennen, im Innersten: Er bezweifelt rundweg die Daseinsberechtigung gewaltiger Forschungsapparate. Er reitet eine wilde Attacke gegen die Auffassung, „Fortschritt“ sei überhaupt etwas, was um seiner selbst willen bejaht und vorangetrieben werden müsse.

Dabei ist aber der alte Mann, der als Professor emeritus der Columbia University in New York gegen den Wissenschaftsbetrieb vom Leder zieht und in manchen Kapiteln seines Buches schon sehr wild, freilich auch äußerst geschliffen und wortgewaltig um sich schlägt, alles andere als ein Außenseiter der Forschung.

Die Biochemie hat ihm manches zu verdanken. Neben der ersten Synthese einer radioaktiven organischen Verbindung gelang ihm vor allem ein wichtiger historischer Schritt auf jenem Gebiet, das er heute für besonders gefahrenträchtig hält: In der DNS-Forschung (siehe auch FURCHE Nr. 43 1979, „Nur ein Blick durch den Türspalt).

Chargaff beschäftigte sich seit 1944 intensiv mit der DNS, der Desoxyribonukleinsäure. Ausschlaggebend dafür war der berühmte Aufsatz von Oswald T. Avery und zwei Mitarbeitern, über „die chemische Natur der für die Transformation von Pneumokokkustypen verantwortlichen Substanz“. Nach der Lektüre entschloß sich Chargaff, „alles, woran wir arbei-teten, liegen zu lassen oder es zu einem beschleunigten Abschluß zu bringen. Dabei waren es ganz interessante Dinge, die mit vielen Problemen der Zellchemie zu tun hatten. Oft habe ich mich gefragt, ob ich nicht unrecht gehandelt habe, das Steuer so herumzuwerfen, und ob es nicht besser gewesen wäre, der Faszination des Augenblickes nicht zu erliegen“.

In der Geschichte der DNS-Forschung steht Chargaff genau zwischen Avery, der im Alter von 67 Jahren als Erster die Nukleinsäure-Natur der Gene erkannte, und F. H. C. Crick und J. D. Watson, welche die Theorie entwickelten, die „Erbinformation“ sei in einer Doppelspirale aus Makromolekülen der DNS gespeichert. Chargaff ist der Entdecker der Basenpaarung in den Nukleinsäuren und damit sozusagen des „Alphabets“, mit dem die Natur auf den Zeilen der „Doppelwendel“ schreibt.

Einerseits erkannte Chargaff selbst offenbar erst viel später die volle Bedeutung seiner eigenen Arbeiten, anderseits haben Watson und Crick sich über die Bedeutung der Chargaff- schen Entdeckung für ihre eigenen Arbeiten ausgeschwiegen. Chargaff träumte „von etwas viel Großartigerem als einem einfachen, mit einer Sonderschrift bedruckten Streifen. Ich WEIT nicht willens zuzugeben, daß die Natur blind ist und Braille liest“.

Chargaff verstand sich ein Leben lang als „Außenseiter auf der Innenseite der Wissenschaft“, der er vor allem verübelt, daß sie nicht der reinen Wahrheitssuche, sondern handfesteren und dabei zunehmend inhumanen und gefährlichen Zwecken dient.

Er ist ein Mann mit umfassender humanistischer Büdung und ungewöhnlich weitem Horizont, historisch, literarisch und in alten wie modernen Sprachen beschlagen, und sein Denken ist vor allem durch Karl Kraus beeinflußt und an Karl Kraus geschult. Karl Kraus faszinierte mehr als irgendein anderer den in Czemo- witz geborenen und in Wien aufgewachsenen Erwin Chargaff.

Seine außergewöhnlich kritische, von ethischen Inhalten geprägte Haltung, eine gewisse kassandrische Pose und wohl auch seine Wortgewalt, sein geschliffener Stil, sein oft ätzender Witz brachten ihn in eine Außenseiterposition: er war alles andere als bequem.

Heute freilich gibt seine Warnung vor den Gefahren der Erb-Manipula- tion, die er 1976 in der Zeitschrift „Science“ veröffentlichte, vielen Naturwissenschaftlern zu denken. Er schrieb da unter anderem: „Was man völlig außer acht gelassen hat, ist, daß wir es hier viel mehr mit ethischen als mit einem hygienischen Problem zu tun haben, und daß die in erster Linie zu beantwortende Frage die ist, ob wir das Recht haben, eine weitere furchterregende Last auf noch nicht geborene Generationen zu legen.

Ich verwende das Adjektiv .weiter angesichts des ungelösten und ebenso furchterregenden Problems, das sich aus der Frage der Beseitigung des Nuklearmülls ergibt. Unsere Zeit ist dazu verflucht, daß schwache, als Fachmänner verkleidete Leute Entschlüsse von enormer Reichweite zu machen gezwungen sind … Man kann mit der Atomspaltung aufhören; man kann die Mondbesuche beenden; man kann sich der Verwendung von Aerosolen enthalten; sogar der Entschluß ist denkbar, nicht mehr ganze Bevölkerungen mit Hilfe von einigen Bomben zu töten. Aber neue Lebensformen können nicht zurückgerufen werden.“

Chargaff meint, daß Forschung und überhaupt Fortschritt ohne Kontrolle oder Selbstbeschränkung die Menschheit dem Abgrund näherbringt. Man muß nicht alles bejahen, was dieser Mann sagt - aber man muß ihn hören, und das heißt: lesen.

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