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„... kein bißchen Lenin”

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Jan Richard hat wieder zugeschlagen: Nachdem der versierte Publizist in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch ”... und immer muß es Kaviar sein” das süße Leben der kommunistischen Bonzen im Ostblock unter die Lupe genommen und gut dokumentiert hat (siehe FURCHE Nr. 14/84), geht er in seinem jüngsten Werk daran, eine interessierte Leserschaft über weitere Schattenseiten der sozialistischen Alltagswirklichkeit aufzuklären:

Der Prostitution und Kriminalität im Ostblock gut dieses Mal sein Hauptaugenmerk, und in dem Buch „Laster, Luxus und kein bißchen Lenin” hat Richard wieder eine Menge Material zusammengetragen. Dabei geht es dem Autor nicht darum, das „westliche System mit seinen unleugbaren Schattenseiten und entwürdigenden Schwächen” indirekt zu verherrlichen oder unkritisch zu verklären:

„In den westlichen Industrienationen sind die Vermarktung der Sexualität und ihre Dehumani-sierung, sind Korruption und Kriminalität, ist die Selbstherrlichkeit mancher politischer Funktionäre ebenso stark oder noch deutlicher ausgeprägt als in kommunistischen Systemen. Aber: In den kommunistischen Ländern Osteuropas gibt es diese sozialen Deformationen, was in krassem Widerspruch zur Propaganda und zur ideologischen Doktrin steht.

Daß beispielsweise Prostitution „auf dem Privateigentum beruht und mit ihm fällt”, wie einer der geistigen Väter des Kommunismus, Friedrich Engels, meinte, ist durch die Praxis in Osteuropa eindeutig widerlegt worden.

Diese Praxis zeigt Richard dann im ersten Abschnitt seines Buches anhand von zahlreichen Beispielen aus der Sowjetunion, Ungarn (wo die Behörden einfach ein Auge zudrücken und so den Prostituierten erlauben würden, ungehindert ihren Beruf auszuüben, der im Magyarenland seit Jahrhunderten nicht als ehrenrührig betrachtet werde), Tschechoslowakei (wo die Liebesdienerinnen den „Persilschein” zur Ausübung ihres Gewerbes direkt von der Sicherheitspolizei erhielten — wie übrigens vielfach auch in den anderen Ostblockstaaten; ein gemeinsames „Abenteuer” mit solchen Damen kann für westliche Besucher deshalb äußerst unangenehme Folgen haben), in Polen, Bulgarien, Rumänien und der DDR auch.

Was die Kriminalität in den sozialistischen Gesellschaften des Ostblocks anbetrifft, hält beispielsweise das ostdeutsche „Kleine Politische Wörterbuch” (Dietz Verlag, Ostberlin 1983) fest:, Jm Sozialismus sind mit der Errichtung und Entfaltung sozialistischer Macht- und Produktionsverhältnisse die sozialökonomischen Ursachen der Kriminalität im wesentlichen beseitigt, und es entwickelt sich ein neues Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, das auf prinzipieller Interessenübereinstimmung beruht und zunehmend in Beziehungen der kameradschaftlichen Zusammenarbeit, der gegenseitigen Achtung, Hilfe und Verantwortung zum Ausdruck kommt.”

Und weiter heißt es darin: „Für die sozialistische Gesellschaftsordnung ist die historische Tendenz der schrittweisen Zurückdrängung der Kriminalität charakteristisch.”

Dem hält Richard—auf das Beispiel Sowjetunion bezogen — entgegen: „Die Sowjetunion, einst mit jungfräulich' revolutionärem Eifer geschaffen, ist in den mehr als 60 Jahren ihrer Geschichte längst verkommen: Sie ist mißbraucht und geschändet von einer politischen und kriminellen Mafia, mit der man sich besser nicht anlegen sollte...”

Zum Beweis führt er eine Fülle von Korruptions- und Kriminalfällen aus der UdSSR und anderen Oststaaten an, die er zumeist der Regimepresse selbst entnommen hat.

Die 1982 aufsehenerregende Korruptionsaffäre rund um den

Chef des nationalen Zirkusdirektorates, Anatolij Kolewatow, und einen als „Boris der Zigeuner” bekanntgewordenen Moskauer (Lebens-)Künstler, in die auch die Breschnew-Tochter Galina verwickelt war, wird von Richard ebenso geschildert wie das korrupte Klima im sowjetrepublikanischen Schlaraffenland Georgien.

Und auch Beispiele von Korruptionsfällen im Gesundheitswesen, im Sport- und im Universitätsbereich fehlen nicht. Dazu kommt eine weitere Besonderheit: „Vor allem um das in Osteuropa so begehrte Auto wuchern Korruption und Bestechung, ja Kriminalität in kaum vorstellbarem Ausmaß. Das ergreift auch alle damit zusammenhängenden Bereiche, wie etwa die Beschaffung des teuren und oft auch rationierten Treibstoffes. Beteiligt sind an den dunklen Geschäften Betriebsdirektoren, die Miliz, Staatsbeamte und sogar die Justiz.”

Dies alles und vieles mehr, was sich zu den Themen Prostitution, Korruption und Verbrechen in Richards gut recherchiertem und flüssig verfaßtem Buch findet, widerspricht auch fundamental jenen Ansprüchen, die das bereits erwähnte,.Kleine Politische Wörterbuch” aus der DDR in Zusammenhang mit der sogenannten „sozialistischen Lebensweise” erhebt:

„Der sozialistischen Lebensweise sind Verhaltensweisen fremd, wie sie in Egoismus und Raffgier, Rohheit und Rowdytum, im Streben, sich auf Kosten der Gesellschaft zu bereichern und in Niedertracht und Rivalität in den zwischenmenschlichen Beziehungen zum Ausdruck kommen.”

Nein: Weder gibt es eine „sozialistische Lebensweise”, die nicht mit allen diesen Verhaltensweisen auch konfrontiert wäre, noch hat der Kommunismus in Osteuropa einen „neuen Menschen” schaffen können, der solchen Verhaltensweisen grundsätzlich abschwört.

Jan Richard dazu: „Kein von Menschen geschaffenes politisches oder soziales System, so sehr es sich auch als Heus- und Erlösungslehre versteht, hat in der Vergangenheit etwas an der prinzipiellen .Unerlöstheit' des menschlichen Wesens geändert, die sich in Gewalt, Aggression, Kriminalität, im Mißbrauch der Sexualität, in menschenverachtender Herrschsucht und Korruption immer wieder ausdrückt; genausowenig wird die Zukunft Jichtvoir sein oder sich menschliche Schwachheit und Schwäche im Nichts auflösen.”

Von dieser Erkenntnis sind die kommunistischen Ideologen und die Machtelite freilich noch Lichtjahre entfernt...

LASTER, LUXUS UND KEIN BISSCHEN LENIN. Sex und Crime im Ostblock. Von Jan Richard. Wirtschaftsverlag Langen-Müller/ Herbig, München 1984. 295 Seiten, 24 Abb., geb., öS 232,50.

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