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Österreichs „Elitekultur“ von der Schule erneuern ?

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Nur 18 Prozent aller Österreicher besuchten 1971/72 mindestens einmal Opernaufführungen, Operetten oder Musicals, nur zwei Prozent mehr als elf mal; nur 12 Prozent waren in einem Konzert oder in mehreren.,. .In Wien besuchten im selben Zeitraum 41, Prozent der Einwohner ein Theater, 30 Prozent eine Opernaufführung, Operette oder Musical, aber nur 17 Prozent ein Konzert. Oder: nur 5 von 100 Österreichern musizieren selbst regelmäßig, 6 gelegentlich, 2 selten, 72 Prozent aber überhaupt nie .. .Und geradezu schockierend sind die Zahlen, die über den Kulturbedarf in der „Kulturnation Österreich“ Auskunft geben: Ein Drittel aller Österreicher hält sein: kulturelles Leben für „ausreichend“, drei Zehntel bestätigen, es fehle ihnen schon einiges, ohne daß sie aber initiativ würden, diesen Mangel zu beheben. Und 32 Prozent haben überhaupt „keinen persönlich anwendbaren Kulturbegriff“: Kultur ist für sie eine unbekannte, eine unwichtige Größe, über die sie sich weiter keine Gedanken machen.

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Nur 18 Prozent aller Österreicher besuchten 1971/72 mindestens einmal Opernaufführungen, Operetten oder Musicals, nur zwei Prozent mehr als elf mal; nur 12 Prozent waren in einem Konzert oder in mehreren.,. .In Wien besuchten im selben Zeitraum 41, Prozent der Einwohner ein Theater, 30 Prozent eine Opernaufführung, Operette oder Musical, aber nur 17 Prozent ein Konzert. Oder: nur 5 von 100 Österreichern musizieren selbst regelmäßig, 6 gelegentlich, 2 selten, 72 Prozent aber überhaupt nie .. .Und geradezu schockierend sind die Zahlen, die über den Kulturbedarf in der „Kulturnation Österreich“ Auskunft geben: Ein Drittel aller Österreicher hält sein: kulturelles Leben für „ausreichend“, drei Zehntel bestätigen, es fehle ihnen schon einiges, ohne daß sie aber initiativ würden, diesen Mangel zu beheben. Und 32 Prozent haben überhaupt „keinen persönlich anwendbaren Kulturbegriff“: Kultur ist für sie eine unbekannte, eine unwichtige Größe, über die sie sich weiter keine Gedanken machen.

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Diese alarmierenden Tatsachen liegen seit etwa eineinhalb Wochen schwarz auf weiß vor: Das Institut für empirische Sozialforschung hat sie im Auftrag des Unterrichtsministeriums erarbeitet und zu einer 200 Seiten starken Studie „Grundlagenforschung im kulturellen Bereich“ zusammengefaßt; diese soll die Basis für die Ausarbeitung eines Maßnahmenkatalogs sein, den Unterrichtsminister Dr. Sinowatz Anfang Juli vorlegen möchte.

Denn daß gewissermaßen Feuer auf Österreichs Kulturdach ist, läßt sich kaum noch wegleugnen: Kulinarisch aufbereiteter Kulturkonsum, ein Übergewicht reproduzierender Kultur vor allen kreativen Momenten, Kultur aus Repräsentationsbedürfnis mit einem gesellschaftlichen Selbstinszenierungseffekt — das sind die Momente, von denen Österreichs Kultur heute letztlich bestimmt wird. Und vor allem: Kultur ist der Konsumartikel einer ganz kleinen Elite, also „elitäre Hochkultur“ — wie die Studie sie nennt —, die „im Adel und im arrivierten Bürgertum gepflegte Kultur, deren jahrhundertelange Entwicklung zu einer Uberbetonung des Individuums und der künstlerischen Spezialistenfolge der bäuerlichen Kultur, die nur noch „verdünnt weiterwirkt, weil inzwischen auch im ländlichen Raum die Landwirtschäftstreibenden zur Minderheit geworden sind und ihre ursprüngliche naturnahe Lebensweise zugunsten moderner Technologien reduziert haben“. Dennoch bewahrt sich gerade in Österreich der ländliche Raum relativ stark ein eigenständiges Kulturmuster, weil einerseits die räumliche „Abgeschiedenheit“ weiterhin wirksam bleibt, anderseits in den Berggebieten auch die Produktions- und Lebensverhältnisse sich nicht so leicht modernisieren lassen. Außerdem werden heute die Tendenzen stärker, bäuerliche Kultur als Fremdenverkehrs-Ser-viceleistung zu konservieren.

Dem ländlichen Raum steht die „städtische Unterschicht“ gegenüber, als Nachfolge der Proletarierkultur, wobei aber längst nicht mehr von einer Arbeiterkultur gesprochen werden kann, da bereits auch Angestellte und Kleingewerbetreibende mit mangelnder Bildung und unterdurchschnittlichem Einkommen dieser Schicht zuzurechnen sind. .

Neu ist eine Mittelschicht, die den relativ besser ausgebildeten' und ausreichend verdienenden Bewohdem einzelnen Menschen eine möglichst volle Bedürfnisbefriedigung und Selbstentfaltung zu gewährleisten“, heißt es eingangs; nachdem schon vorher Kultur „im gesamtgesellschaftlichen Sinn, wie sie von Ethnologie und Soziologie definiert wird“ bemüht worden war.

Da aber zeigt sich leider, wo die Studie es billig gibt. Den damit, schafft sie eigentlich nur eine Basis, um in Hinkunft Kulturleistung — einmal ganz kraß gesprochen — mit Produktion fürs Unterhaltungsbedürfnis und mit Bastelbetriebsamkeit (als Form der Selbstentfaltung) zu verwechseln... Kultur, eindimensional verstanden, nur vom Rezipien-ten her betrachtet... Kultur als politischer Konsumartikel, für den es im Grunde keinen philosophischen, religiösen, historischen Stellenwert gibt; d. h. Kultur nur materialistisch gedeutet, wobei die „Hochkultur“ und ihre Produkte als historische Relikte verewigt und einer neuen „gesunden Volkskultur“ das Wort geredet wird... Aber liegt diesem Gedankengang nicht überhaupt noch eine ganz andere Vorstellung zugrunde: nämlich daß man gewachsenen Denkstrukturen einer Gesellschaft, ihren Motiven und ihrem materiellen Funktionssystem eine Roßkur verordnet... ? Gerade vor den Wahlen? (Was Minister Sinowatz nicht einmal verneint: „Wenn gefragt wird, ob dieser Katalog wegen der bevorstehenden Wahlen erarbeitet wird, lautet die Antwort, daß er selbstverständlich auch wegen der bevorstehenden Wahlen erarbeitet wird“). Was nun freilich auch bedeuten könnte, daß wir es mit einer etwas aufwendig getarnten Methode zu tun haben, einfach mit einer Informationsgrundlage, eine Neuorientierung der „Kulturförderungspolitik im traditionellen Rahmen“ zu motivieren.

Dennoch, bei allen diesen SP-poli-tischen Überlegungen und auch allen — sicher notwendigen — Beschränkungen, denen diese IFES-Studie unterworfen werden mußte, hat sie auch eine Pionierleistung aufzuweisen: ungeheures statistisches Material, auf das man bei jeder weiteren Untersuchung zurückkommen wird müssen und das auch bei jeder zu setzenden Maßnahme als Ausgangspunkt dienen wird. Denn hier sind erstmals jene Relationen festgehalten und ausgewiesen, die zwischen Schulbildung, Milieu und Kulturbedürfnis des Österreichers wirken, also daß Kulturkonsum vor allem von Bildungs- und Ausbildungsniveau abhängt, von den Bildungschancen des einzelnen, ferner vom Lebensraum (Stadt-Land) usw. Das also bedeutet, daß Akademiker und Maturanten zu allen Kulturkonsumartikeln ein viel natürlicheres, engeres Verhältnis haben als Absolventen einer Pflichtschule. (Auch wenn uns freilich diese Zusammenhänge nicht mit solcher Ausschließlichkeit wirksam scheinen, wie uns dies die IFES-Studie glauben machen will.)

Hauptziel der Untersuchung wie der daraus erst anzuleitenden Maßnahmen sollte es freilich sein: Verhältnisse durch die verschiedensten Aktivitäten zu korrigieren, die da etwa mit alarmierenden Zahlen belegt werden: daß etwa 83 Prozent aller Österreicher, die nur Volksschulbildung haben, innerhalb eines Jahres keine kulturelle Veranstaltung besuchten; oder daß jede künstlerische Tätigkeit in welcher Form immer, 91 Prozent der ausschließlich aus Volksschulen hervorgegangenen Staatsbürger total fremd geblieben ist; und daß gleichzeitig auch 66 Prozent bei den Akademikern kein wie immer geartetes Interesse künstlerischer Tätigkeit gegenüber gezeigt hätten. (Am besten schneiden hier noch die Maturanten ab.) Wenngleich Unterrichtsminister Sinowatz sich immer vor Augen halten muß, daß allein mit der „Bil-dungsaufstockung“ aus dem Schulbereich heraus noch keine „neue Volkskultur“ aus dem Boden zu stampfen sein wird.

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