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Provinz-Streiterei

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Voraussichtlich am 16. November wird nach einer Sitzung des Bundeslastverteilers bei der Bundesregierung die Ausrufung des „Energienotstandes“ beantragt werden. Damit soll der Lastverteiler ermächtigt werden, auf dem Verordnungswege Stromverbrauchseinschränkungen zu verfügen. Diese Zeilen sind keine Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1945, sondern aus dem Jahr 1972. Das klassische Stromexportland Österreich muß den Energienotstand ausrufen — wie konnte das passieren?

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Voraussichtlich am 16. November wird nach einer Sitzung des Bundeslastverteilers bei der Bundesregierung die Ausrufung des „Energienotstandes“ beantragt werden. Damit soll der Lastverteiler ermächtigt werden, auf dem Verordnungswege Stromverbrauchseinschränkungen zu verfügen. Diese Zeilen sind keine Zeitungsmeldung aus dem Jahr 1945, sondern aus dem Jahr 1972. Das klassische Stromexportland Österreich muß den Energienotstand ausrufen — wie konnte das passieren?

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Die große Industrialisierungswelle, die unmittelbar nach Abschluß des Staatsvertrages in Österreich eingesetzt hatte, hatte zu enormen Stromverbrauchssteigerungen geführt. Der Ausbau der Kraftwerke wurde von allen österreichischen Elektrizitätsversorgungsunternehmen stark vorangetrieben, alles schien seinen richtigen Weg zu gehen. Doch in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre begannen Fachleute zu zweifeln, daß der boomartige Stromverbrauchsanstieg in diesem Ausmaß anhalten werde und forderten eine Verlangsamung des Kraft-werkebauprogramms.

Wenn es auch zu keinem Stillstand der Bautätigkeit kam, hat diese Periode der Unsicherheit doch entscheidenden Anteil an der bestehenden Katastrophensituation der österreichischen Stromversorgung.

Denn in einer Zeit, in der man in allen europäischen Industriestaaten bereits die ersten Projekte für Kernkraftwerke entwarf, diskutierte man in Österreich noch über die Zweckmäßigkeit des weiteren Ausbaues der Wasserkraftwerke. Diese Verzögerung hätte sich aber nicht derart katastrophal auswirken können, wenn nur die Industrie im damals bereits bekannten Ausmaß Stromverbrauchssteigerungen verzeichnet hätte. Doch die anhaltend gute Konjunkturlage seit etwa 1969 hat bei der Industrie einen Investitionsboom ausgelöst, der naturgemäß auch die Stromabnahme enorm steigerte. Zwar hat seit dem ersten Erdgasabkommen mit der Sowjetunion Erdgas als Energie für die Industrie zunehmend an Bedeutung gewonnen, aber in vielen Sparten kann der elektrische Strom nicht ersetzt werden.

Zu diesem sehr starken Anstieg des industriellen Stromverbrauchs kam ein weiterer Faktor, mit dem bis damals niemand gerechnet hatte: die beispiellose Technisierung der Haushalte, zumeist auf der Basis elektrischer Geräte.

Weiter kommt nun dazu die zunehmende Bedeutung des elektrischen Stromes bei der Beheizung von Wohnungen. Allein in Österreich haben die Anträge für Nachtspeicherheizungen in den letzten beiden Jahren derart zugenommen, daß sie nur noch unter größten Anstrengungen der Gesellschaften genehmigt werden können. In Wien hat in den beiden letzten Wochen die Kälte zu einem Ansteigen der Verbrauchsspitze auf die Werte des vorigen Winters geführt — und das bereits im Oktober. Und dabei liegt der Energieverbrauch noch immer unter dem anderer Industriestaaten, was bedeutet, daß der Energieverbrauch auch in Österreich weiter steigen wird (siehe Tabelle).

Sicher ist die nun bereits im zweiten Jahr anhaltende ungewöhnliche Trockenheit Hauptschuldiger des Strommangels: Die Laufkraftwerke erzeugen nur etwa 58 Prozent ihrer Durchschnittsleistung. Aber obwohl die kalorischen Kraftwerke mit Volllast fahren, ist die Stromversorgung kritisch und in zunehmendem Maße von Importen abhängig. Ganz abgesehen von der finanziellen Bela-1 stung, die sich aus der vermehrten Importtätigkeit für die Verbundgesellschaft ergibt, ist auch die auf Importe gestützte Versorgung nicht sehr sicher. Denn in ganz Europa haben sich die Phänomene des Verbrauchsanstieges angeglichen: Die Erzeugung kann mit der Verbrauchszunahme nicht mehr oder nur mühsam Schritt alten.

Eines ist aber sicher: Im Vorjahr glaubte sich die österreichische

Energiewirtschaft noch einen sehr provinziell anmutenden Streit darüber leisten zu können, wann das erste Kernkraftwerk in Betrieb gehen soll. Heuer muß auch den größten Wasserkraftverfechtern klar sein, daß etwas geschehen muß. Da die Umweltschützer den Bau von Wasserkraftwerken immer mehr eingeschränkt sehen wollen, bleibt die Zukunft der Elektrizität in der Atomenergie.

Doch auch über das zweite Kernkraftwerk ist man sich alles andere als im klaren. Weder Standort noch Bauherr stehen fest. Diese Entscheidung muß aber spätestens im Laufe des kommenden Frühjahrs fallen, soll es nicht wieder zu spät sein: Nur vermehrte Anstrengungen und gemeinsames Bemühen um koordinierte Ausbauprogramme können den Energienotstand als Dauererscheinung verhindern.

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