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Wir brauchen Visionen

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Von Vernichtungslagern wollen viele nichts gewußt haben - die Sünden von heute kennen alle. Eine Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Achtung der Schöpfung tut not.

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Von Vernichtungslagern wollen viele nichts gewußt haben - die Sünden von heute kennen alle. Eine Vision von Gerechtigkeit, Frieden und Achtung der Schöpfung tut not.

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Es gibt heute ganze Schulklassen, die verwirrt und fassungslos vor den Fotos und den Dokumenten von Bergen-Belsen stehen. Wie konnte das geschehen? fragen sie. Manchmal denke ich, daß am Ende des Jahrhunderts etwas Ähnliches möglich sein wird, ganze Schulklassen, die vor den Fotos des Hungerelends in Indien oder Afrika stehen und fragen: Wie

konnte das geschehen? Wie konnten die — gemeint sind: wir — das alles ertragen und immer weiterrüsten? Wie konnten die Leute das eigentlich zulassen? Ja, wie denn? Wie gehen wir denn mit den Terrornachrichten um, die täglich auf uns einschlagen? Wie halten wir's denn, wenn wir von der ärztlichen Empfehlung hören, Kinder wegen der Schwermetalle in der Muttermilch nicht länger als vier Monate zu stillen? Wie leben wir denn im Alltag unter dem Projekt des Todes, das uns beherrscht? Welchen .Platz in unserm Denken und Fühlen räumen wir der Frage nach der Gerechtigkeit - und das ist die Frage nach Gottes Zukunft—denn ein?

Es genügt ja nicht, das Elend benennen zu können und über ein angehäuftes Katastrophen-Wissen zu verfügen. Ein Wissen, das nicht in unser Verhalten eintreten kann, trägt nur zu unserer Lähmung bei. Die geistige Situation der aufgeklärten Mittelklasse in der Ersten Welt läßt sich so beschreiben, daß wir „overeduca-ted” und „underpowered” sind. Wissen bedeutet uns nicht, wie in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, Macht, sondern tiefere, bittere Ohnmacht. Sich der eigenen Lage bewußt zu sein, national und international, hat bei uns ein Moment der verzweifelten Drogenabhängigkeit an sich: Wir überbieten einander in Katastrophen-Wissen.

' Wissen ist zwar notwendiger denn je, weil man radioaktive Strahlen nicht hört, sieht, schmeckt oder riecht, aber unser, Wissen schmeckt nur nach Tod. Diese Situation der Ohnmacht, der alltäglichen Machtlosigkeit gegenüber Tieffliegern, verstrahlten Pilzen und apartheidverseuchtem Obst aus Südafrika ist unerträglich und zwingt uns zu verdrängen. Lieber leugnen wir das Wissen und stellen uns tot, als daß wir die eigene Ohnmacht ertrügen.

Unsere Ohnmacht und Verdrängung steigern einander: weil wir uns ohnmächtig glauben, müssen wir vorgeben, nichts zu sehen, und weil wir unsere Anstrengung in diese Verdrängung stecken, haben wir keine Energie mehr frei, die Ohnmacht zu überwinden und im Sinne der biblischen Vision zu handeln. Die frei-esten Menschen in unserem Land sind in der Tat die, die im Widerstand gegen die Götzen des technologischen Fortschritts und der müitärischen Allmacht handeln, ohne verdrängen zu müssen.

In diesem Zusammenhang ist die Bibel für viele Gruppen immer wichtiger geworden. Nicht sie ist uns, sondern wir sind ihr immer näher gekommen, weil unsere reale Situation, als Minderheit in einem gewalttätigen Imperium lebend, heute mehr Ähnlichkeit mit der Situation des Neuen Testaments hat. Wenn Paulus sagt, daß wir entweder Sklaven der Sünde oder Sklaven Christi sind, so habe ich mich früher an dem Bild, das meinem liberalen Bewußtsein widersprach, gestoßen. Heute habe ich ein viel tieferes Verständnis dafür, was es bedeutet, Sklavin der Sünde zu sein und durch Steuern, Konsum und Kooperation ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, ihr zu dienen. Es ist aber auch deutlicher geworden, was es heute heißt, sich mit Christus auf einen anderen Weg zu machen.

Zu einer Vision von dem „Land, in dem es leichter wäre, gut zu sein”, gehört eine Umkehr von den Werten, die wir jetzt für grundlegend halten. Gerechtigkeit ist näher am Quell des Lebens als Sicherheit, Machtverzicht eröffnet menr Freiheit als Machtanwendung, und die gegenseitige Abhängigkeit zu erkennen ist notwendig, um in dem „globalen Dorf”, das wir bewohnen, leben zu können. Diese Gegenseitigkeit und Abhängigkeit respektiert auch die Mitgeschöpfe, die nicht unsere Sprache sprechen. Der Frieden mit der Natur, nicht gegen sie, ist eine Art, die Schöpf ung zu respektieren, die wir in der abendländischen Industriegeschichte verlernt haben. Können wir sie wieder-lernen?

Die Bibel spricht davon, daß unsere Söhne und Töchter Visionen haben werden (Joel 3,8 und Apostelgeschichte 2,17). Sie werden als lebensnotwendig angesehen, und die Erinnerung an die Zielvision ist ein immer wieder zu feierndes Fest, das uns miteinander verbindet. In kirchlicher Sprache heißt dieses Fest „Gottesdienst”, und ein unverzichtbares Element solcher Versammlungen von Menschen im Namen Gottes ist die Vision, die wir dort miteinander und genährt von der religiösen Tradition teilen. Aus dieser geteilten Vision wächst eine Kraft zum Widerstand. Ein Gottesdienst ohne Vision bleibt leer, die Vision ist es, die erleuchtet und wärmt.

Ein intelligenter Betrachter, der die Vision des Volkes Gottes nicht teilt, wird sie als naiv und allzu optimistisch ansehen. Gebannt von der Machtfrage, wird er oder sie vor allem die Machtlosigkeit der sozialen Bewegungen für Frieden, Solidarität mit den Völkern der Dritten Welt und Versöhnung mit der Natur zu beweisen wissen. Daß das weiche Wasser den Stein brechen soll, ist ihr nicht glaubhaft. Sie beobachtet von außen, ob die Sache gut oder schlecht ausgeht. Diesen Beobachterstandpunkt kann man sich aber eigentlich nicht leisten, wenn es tatsächlich um das eigene Leben geht. Eine Hoffnung, die abwartet, was denn nun herauskommt, die sich nicht wirklich identifiziert mit dem Erhofften, ist nur ein Spielmaterial der inneren Anschauung und in diesem Sinn nur Illusion.

Die christliche Hoffnung, die in der Tradition unter die übernatürlichen, uns durch Gnade eingegossenen Tugenden zählt, unterscheidet sich von der Beobachter-Hoffnung durch Anteilhabe, Mitwirkung, Partizipation. Sie ist Hoffnung, in der ich an der Heraufführung eines anderen Zu-stands selber beteiligt bin. Anfang der achtziger Jahre gab es in einer Schule in Boston eine Umfrage über die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs. Alle Kinder bis auf eines meinten, das Ende der Welt sei nahe. Als man das Kind mit der abweichenden Meinung fragte, warum es nicht an den Atomkrieg glaube, sagte es: „Weil Mami und Papi dagegen arbeiten.”

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