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Zu Fuß zum Äquator

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Krebse graben sich flink in den Küstensand ein. Auf den Wellen des Meeres glitzert kokosmilchweiße Gischt. Seltsamer Vogelsang ertönt vom Dschungel her. Vor uns wirbelt der Wind trockene Palmenblätter her. Wir sind nicht mehr weit vom Fluß, wo dicke Leguane auf den Steinen ihr Sonnenbad nehmen.

„Hello", ruft Rani. „Hello", sage auch ich, obwohl wir uns unterwegs schon mehrmals gegrüßt haben. Ich zeige auf den zum Fluß führenden Pfad. „Gibt es hier Schlangen?" „Nein." Tiefe Überzeugung strahlt aus Ranis Blick, seine weißen Zähne leuchten aus seinem tiefbraunen Gesicht. „Komisch", versuche ich es nochmals, „nach den Büchern gibt es hier überall Schlangen. Kobras und schwarze Mambas." „Nein, es gibt nichts davon", Rani schüttelt den Kopf. „Wie ist das möglich?" frage ich erstaunt. „Ganz einfach: die Schlangen werden von den Mungos gefressen", erklärt Rani.

Das hört sich recht beruhigend an und ich gehe schon mutiger weiter. Rani hopst neben mir einher. Trotzdem sehe ich für alle Fälle manchmal auf den Weg vor meinen Füßen. Und wenn es schon keine Schlangen gibt, so wären doch Skorpione möglich. Inzwischen taucht auch Asoka unvermittelt auf. Sie hüpft, ebenso wie Rani, um mich herum, mal vor, mal hinter mir. Ihr kohlrabenschwarzer Zopf schwingt hin und her.

„Diese Mungos sind sehr nützliche Tiere." Mein Satz hätte Asoka gegolten, aber sie hörte mir nicht zu. „Die Mungos", wiederhole ich. „Was willst du denn mit den Mungos?", schaut sie mich verwundert an. „Nun, Mungos fressen die Schlangen." „In dieser Gegend gibt es keine Mungos", sagt

sie. „Und Schlangen?" „Natürlich gibt es Schlangen, warum denn nicht?" Tja, warum denn nicht, wenn es schon keine Mungos gibt... Das ist aber merkwürdig, daß Rani sich überhaupt nicht in die Diskussion einmischt; er läßt zu, daß Asoka, ohne mit der Wimper zu zucken, die Existenz dieser nützlichen Schlangentöter leugnet.

Auf dieser wunderbaren Insel, wo Buddhas Zahn aufbewahrt wird und sich die Fußabdrücke Adams auf einem Berggipfel finden, vertragen die verschiedenen Meinungen sich so friedlich wie die Friedhöfe. Buddhisten, Moslems, Christen. Nicht einmal der Tod hat hier etwas Bedrohliches; bunte Flaggen verkünden seine Ankunft. Für Priester - gelbe und weiße für einfache Leute. Rani zeigt auf die rußigen Balken des Verbrennungsplatzes.

Von den Wellen verschlungen

„Auch Vater wurde hier eingeäschert, er hat zuviel Arak getrunken", er sagt es fast heiter. Der Onkel Asokas wurde von den Wellen verschlungen, samt seinem Katamaran. „Wo ist er jetzt?", frage ich Asoka. „Wer?" „Dein Onkel." Sie starrt mich an, als ob ich sie auf den Arm nehmen wollte, aber dann tritt ein zartes Lächeln in ihre Augen. „Hast du mich nicht verstanden? Er ist nicht mehr." „Nein?" „Das Wasser hat ihn weggetragen."

Asoka hat wahrscheinlich recht. Trotzdem beschleunige ich meine Schritte; vielleicht auch nur, weil meine Muskeln so besser in Bewegung kommen, vielleicht, weil ich fühlen möchte: ICH LEBE.

„Du kannst recht schnell laufen", begeistert sich Rani, „obwohl du schon so alt bist. Wenn du stirbst, wird man dich auch verbrennen oder in der Erde vergraben?"

Ich schlucke und beeile mich noch

mehr. Wir gehen auf einen alten Buddha-Tempel zu. Er steht auf einem kleinen Hügel; man kann ihn noch nicht sehen, denn der Dschungel verbirgt ihn vor unseren Augen. „Würden wir in dieser Richtung gerade weitergehen, könnten wir den Äquator erreichen", erkläre ich Rani. Er tut so, als ob er es verstünde, aber ein wenig später fragt er mich trotzdem: „Was ist dieser Äquator?" „Weißt du, das ist eine Linie, die den Erdball in zwei gleiche Halbkugeln teilt." „Wo ist er?" Ich weise mit meinem Arm in Richtung Meer. „Nur ungefähr hundert oder zweihundert Meilen von hier." „Woher weißt du das?" „Ich habe es gelernt." „Aus diesem Buch, in dem du auch über die Schlangen gelesen hast?" Ich widerspreche ihm nicht. Rani lacht schallend auf.

„Du willst also dorthin gehen, um auf dieser Linie zu stehen, ha-ha-ha". „Ha-ha-ha", lacht auch Asoka vergnügt. „Aber das geht doch nicht, die Haie werden dich fressen." Ihr Lachen streichelt mich und hört erst auf, als wir in den Tempel eintreten. Asoka und Rani legen dem Buddha Lotusblüten zu Füßen. Auch ich senke die Stirn in meine mit Blumen gefüllten Hände. „Buddha schläft." Rani zeigt auf die riesige Statue. „Elefant", zwitschert Asoka, weil auch sie mir etwas über die Bedeutung der Bilder des Tempels verraten möchte. „Wer nicht ist, der ist nicht", murmele ich zu Buddha.

Von den Wänden hallen meine Worte zurück. Eine kleine Eidechse klettert über Buddhas rotbemalten Handteller hinauf. Ihre winzige Stimme hört sich an, als ob jemand piepsend bellen würde. Vom Meer her ertönt ein anfeuerndes Lied: Hoja, Hoja! Der Männergesang geht plötzlich in den Sopran über. Gebeugte schwarze Schatten verdecken die Mosaike, die Singhalesen schleppen ihre Netze.

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