7024485-1989_06_08.jpg
Digital In Arbeit

Mit dem Buntstift

Werbung
Werbung
Werbung

Lange vor unserer Geburt haben die Eltern beschlossen, wer wir sein sollen. Es ist der Zweck der Phantasie, sich zu erheitern. Schon in der Schule empfand ich die Wettbewerbsfolter. Auch die Gedanken sind nicht frei. Manchmal ist ICH sehr schwer.

Alexander (Emst Herbeck)

An den Rändern des Gemüsegartens wachsen Nelken, dicke rosa Büschel, die riechen eigenartig, mir wird schwindlig davon, so süß und stark und welk.

Da ist ein Misthaufen, der Hahn steht ganz oben, er hat Schwanzfedern aus grüner Seide, und seine Halskrause ist aus purem Gold.

Wir tragen die Salatblätter hin, und die Hühner kommen wak- kelnd und flügelschlagend angelaufen und streiten darum. Es sind unansehnliche Weiber, eifrig und dumm und schielend, ein Hahn hat viele Frauen, und sie alle legen Eier. Manche verstecken sie aber, weil sie nicht mögen, daß die Menschen ihnen die Eier wegnehmen, sie möchten sie ausbrüten, aber die Menschen lassen sie nicht, nur manchmal. Wenn ein Huhn brütet, ist es nicht mehr bei sich, seine Augen sind weiß und blind, sein Kopf fällt zur Seite, und es kann nicht mehr gehen. Es ist ganz heiß und hat sich die Federn am Bauch ausgerupft fürs Nest, es muß gefüttert werden, weil es vergessen hat, daß es fressen muß.

Die Bäume haben ein Gesicht und eine Gestalt, sie sprechen, und ich kann sie verstehen. Und ich rede mit den Schwertlilien und der blauen Wegwarte und den Windenblüten, die so empfindlich sind und sich schließen, wenn sie den Regen spüren. Ich rede mit den Schnecken und Regenwürmern und Käfern, den Himmel versteh ich und die Steine und den Regen. Und natürlich den Fluß.

Zu Ostern wünsch ich mir einen gelben Farbstift. Wie soll ich die Sonne malen oder ein Haus, wenn Gelb fehlt! Ich denke an einen kurzen kleinen Farbstift, der kann doch nicht viel kosten. Ich frage, wie teuer so ein Farb stift ist, sie machen die üblichen Scherze. So ein Farbstift war unwahrscheinlich teuer, viel zu teuer für ein Ostergeschenk. Ich glaube ihnen aufs Wort, der Farbstift wird mir immer kostbarer, ich kann nur mehr an Gelb denken.

Zu Ostern bekomme ich aber eine ganze Packung geschenkt, nicht nur einen, und es sind nicht kurze, sondern lange Stifte, und nicht vielleicht sechs, sondern zwölf, und dazu bekomme ich noch ein Malheft. Das macht mich sprachlos. Ich kann mich gar nicht richtig freuen, ich bin erschüttert. Ich kann nicht gleich hergehen und diese kostbaren Farbstifte verwenden, wie jeder von mir erwartet. Ich nehme sie heraus, sortiere sie neu, ich streichle sie, riech an ihnen, fahr vorsichtig mit dem Finger über ihre Spitzen, betrachte entzückt die Hülle. Meine Farbstifte. Und alle Farben sind da, sogar rosa und orange!

Vati wird ungeduldig, er drängt mich, sie auszuprobieren, er will selber malen. Zuerst läßt er mich ein bißchen, dann erklärt er mir, wie ich mit einem bestimmten Bild im Malheft umgehen soll, es ist ein Zwerg, der auf einem Fliegenpilz sitzt, und über dem Bild liegt ein Gitter. Die anderen Bilder ohne Gitter sind viel schöner, die möcht ich ausmalen. Vati aber will, daß ich lerne, den Zwerg mittels Raster auf die Gegenseite zu übertragen. Es leuchtet mir nicht ein, warum ich das soll.

Er erklärt mir was von Maßstab und Vergrößerung und Verkleinerung, ich will jetzt aber nicht übertragen, ich will die anderen Bilder im Malbuch ausmalen. Er wird ungeduldig. Daß ich sowas Simples nicht begreifen kann, in meinem Alter! Ich bin halt doch ein richtiges Mädchen. Er nimmt mir den Stift aus der Hand und zeigt es mir. Er kann es gut, wie durch ein Wunder taucht auf der anderen Seite der gleiche Zwerg auf dem Pilz hinterm Gitter auf. •

Erinnerungslöcher. Reinfallen bei jedem Song. Reinhard im dunkelbraunen Plüsch, zottigen Pelz, mit Bart und Langhaar, struppig. „Kommt mich doch besuchen, du und Joe!“ Das Zimmer ist dunkelblau ausgemalt, schwarz und violett. Zeichen, Li nien, ein Würfel, Symbole, Zitate, Zahlen, ich hab Angst. Er zeigt einen violetten Stein an seinem Ring, den hat er von seinem Bruder bekommen, man darf ihn nicht zu lange ansehen, der Stein kann einen verrückt machen, und vielleicht wird er einmal wahnsinnig, er hätte nichts dagegen. „Der Tod, wie der Tod wohl ist?“

Er lächelt immer. Eindringlicher Blick, hypnotisierende Augen. Er hat auseinanderstehende Zähne und keinen Hals. Aufgewachsen in Braunau am Inn, sagt er. „Dort, wo Hitler…?“ „Ja, sicher.“ Du konntest dich kaum entziehen, gefährlicher Sog, deine Flipprigkeit, deine Unruhe, er die lebendige Provokation. Angst und Faszination. Etwas Gemeinsames. Der Hang zum Suizid?

Ein Jahrzehnt später zufällig in der Zeitung diese Schlagzeilen, auf der Titelseite. Als Gerippe gefunden in Griechenland. Von seiner Mutter eindeutig identifiziert. Seltsame Umstände. Verschollen schon seit Jahren. Die Klippen hinuntergesprungen? Oder ermordet? Mysteriöser Tod. Mysteriös.

Feelin’ Allright. Joe Cocker.

Wachelt mit den Händen. Ein Bär, wie er dasteht und unsicher rudert, dennoch fest verwurzelt, stark. Adern treten hervor an den Schläfen, er schwitzt, hat die Augen zu, ich bewundere, liebe ihn! Seine Haare kleben an der Haut, dunkle Locken. Oder der Santa- na-Schlagzeuger mit der Stupsnase, Woodstock, rothaarig und dünn. All die kids auf der Wiese, der Mist, den sie hinter sich lassen. Aber die Bewegung! Eine Welle geht über uns, durch uns hindurch.

„Habt ihr’s denn nicht gesehen?“ sagt die Deutschprofessorin, „in diesem Film, habt ihr’s nicht gemerkt? Ihr werdet gegängelt! Die Ideologie, die dahintersteht! Die wollen euch doch nur verbraten für ihre Zwecke! Der Konsum steht dahinter, und die Wirtschaftsbosse, amerikanische Magnaten! Die wollen euch nur ihre Platten verkaufen, euch das Geld aus der Tasche ziehen!“ Ach, laß uns doch in Frieden. Die Musik ist o. k. Purple Haze, Jimmy singt, unsterblich. Dreh lauter! Unsere engen Jeans, unse-

re langen Haare, das Zeitalter des Wassermanns bricht an, endlich, Aquarius, Hair. Wir ziehen uns aus und rutschen im Lehm, wir schlafen am Meer in unseren Schlafsäcken, unter freiem Himmel. Die Erde! Die Sonne, das Licht, der Himmel, das Wasser, die Blumen, das Leben! Wir ha- ben’s gefunden, erfunden für uns, ganz neu.

Laßt uns in Ruhe, ihr über dreißig. Jerry Ribin, schon ganz zerlesen. Do it! Kerouac, Bukowski und Burroughs, Allan Ginsburgh, Timothy Leary und Aldous Huxley, Schöne Neue Welt und Waiden II. Country Joe and the Fish: „Väter, schickt eure Söhne nach Vietnam, beeilt euch! Wer ist der erste in seiner Straße, der einen Helden im Sarg zurückbekommt? — Give me a F, give me an U, give me a C, give me a K, what’s that spell, what’s that spell, what’s that spell?-Fuck!!!“

Hubert oder Gerald. So hübsch skandinavisch in seinem hell-

blauen Pullover. Es ist Sonntag, kaum jemand im Club. „Gehst mit mir ins Kino?“ Warum nicht. Quiet Days in Clichy. Seine Hand verschwindet gleich unter meinem T-Shirt, in meinen Jeans, das macht mir nichts aus, auf der Leinwand treiben sie’s ärger, ich hab schon jede Menge Henry Miller gelesen, das kann mich nicht schockieren, ich mach den Reißverschluß weiter auf.

Dann sitzen wir am Steingeländer an der Mur, warten auf den Bus. Wissen nicht, was reden. Schmusen ein bißchen. Wenn ich nicht so blöd wäre, ließe sich das fortsetzen, aber ich bin kindisch, er gefällt mir jetzt, ich will ihn und rede und rede. Er hat langes blondes Haar und kneift seine blauen Augen zusammen gegen die Sonne, er lacht nett, hat Sommersprossen. Als der Bus endlich abfährt mit mir, ist er wohl froh.

Zwei Abschnitte aus dem Roman „Pechmarie“, der demnächst im Verlag Styria, Graz, erscheint.

Große Maler, zu Unrecht vergessen

Der bewegten Epoche 1760—1870 der deutschen, Österreichischen und

Schweizer Malerei ist ein neues imposantes Werk gewidmet. Es beleuchtet die stilistischen Querverbindungen ebenso wie den Werdegang einzelner Künstler: 4500 Maler werden namentlich erwähnt, ihre Ausstellungen und Auslandsreisen registriert, siebzig Künstler zudem ausführlich gewürdigt. Das Standardwerk ist für Forscher und Kunstfreunde gleichermaßen unverzichtbar. GS

DIE DEUTSCHE MALEREI 1760-1870. Von Helmut Börsch-Suppan. Verlag C. H. Beck und Deutscher Kunstverlag, München 1988. 610 Seiten, 60 Färb- und etwa 60 Schwarzweißabb., Ln., öS 1345,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung