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Die Vorlesung

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Ich muß heute abend von acht bis neun vorlesen. Den ganzen Tag über arbeite und spaziere ich wie gewöhnlich, aber um 6 Uhr fühle ich plötzlich, daß ich sehr abgespannt bin, und beschließe, da man ja um 8 Uhr frisch sein muß, mich hinzulegen. Merkwürdigerweise kann ich trotz der Müdigkeit nicht schlafen. Auf einmal überfällt mich ein verzehrender Hunger, worauf ich esse. Um 7 Uhr bin ich ganz satt und schwer, aber da fährt es mir siedendheiß durch den Sinn, daß ich ja um 8 Uhr lesen muß! Wie kann ein satter Mensch lesen? In meiner Angst beschließe ich, so lange Rum zu trinken, bis mir Flügeln an den Schultern gewachsen sind. Der Rum schmeckt unsagbar abscheulich und brennt wie die Sonne von Jamaika. Der erhoffte schwebende Zustand bleibt aus; statt dessen komme ich mir wie eine wandelnde Spirituslampe vor (mit Blei in dem Fuße), der man bloß noch einen Docht in den Mund zu stecken braucht. Doch nun ist es dreiviertel und höchste Zeit. Auf der Gasse türmen sich die schwarzen Giebelsilhouetten vor dem blaßblauen Abendhimmel; die Rolläden der Geschäfte werden heruntergelassen; man holt vereinzelte Krügel Bier über die Straße. Ich habe dasselbe Gefühl wie auf der Fahrt zum Bahnhof vor einer großen Reise: das herzlichste Mitleid mit allen diesen Leutchen, die da in ihrem dumpfen Alltagsleben befangen sind, Rolläden herunterziehen, Krügel von über der Straße holen und es dabei aushalten können, jetzt keine Reise zu machen und nicht vorzulesen. Vor dem Vorlesungsgebäude lungern ein paar Menschen: es ist noch fünf Minuten vor, sie werden mich anstarren — ich fliehe vor ihnen hinaus in die Dunkelheit. Die Sache ist die, daß das Anstarren sonst gar nicht so schlimm ist, hier aber will ich mich von 8 bis 9 Uhr anstarren lassen und daher um keinen Preis fünf Minuten vor acht. In einer kalten Aufregung gehe ich auf und ab, sehe total uninteressiert auf alles, was es gibt: Häuser, Bäume, Menschen, und betäube mich an einer Zigarette. Wehe dem Vorleser, der jetzt nicht aufgeregt ist, in dem jetzt nicht alle Kräfte, wie die Rennpferde im Paddock, scheu und unruhig umhertänzeln — wenn's drauf ankommt, wird er schon keine Kraft haben!

Jetzt ist es soweit. Ich brenne noch schnell die Schiffe hinter mir ab, werfe meine Zigarette weg, öffne die Tür und trete in den Saal. Im selben Moment, wo mich alle die Augen anstarren, geht mit mir eine Molekularveränderung vor, ich gehe in einen mir neuen Aggregatzustand über. Äußerlich sieht mein Hingehen zum Katheder, mein Hinsetzen, mein Manu-skript-aus-der-Tasche-ziehen genau so aus wie all mein sonstiges Gehaben, und doch ist ein wesentlicher Unterschied: denn ich spiele es vor. Es nicht zu tun, wäre äußerste Verlogenheit. Denn das Normale wäre, daß ich mich in einer so unnormalen Situation durchaus nicht normal benehmen müßte. Da mein normaler Habitus aber aus künstlerischen Gründen hier dringend notwendig ist, so imitiere ich mich mit äußerster Kunst, schneuze mir zum Überfluß noch die Nase und beginne zu lesen.

Jetzt beginnt die Verwandlung. Wenn ich vorher auch Zahn-, Kopf- und Bauchschmerzen gehabt hätte, so würde ich sie doch jetzt nicht fühlen. Mein Leib ist parastatisch geworden und fügt sich willenlos dem mächtigen Diktat der Worte, auf die mein Auge gebannt starrt. Mich durchdringt eine Art Besessenheit. Doch auf einmal fühle ich einen neuen Strom eingeschaltet: er fließt von der ganzen schwarzen Zuhörermasse in mein weißes Manuskript, geht von dort auf mich über und strömt von meiner Stimme, meinen Augen, meinen Fingerspitzen wieder aufs Publikum hinaus. Ich blicke kaum sekundenlang auf und sehe doch genau wie das Publikum aussieht. Die Köpfe „hängen“, daß heißt sie sind alle etwas schief zu mir geneigt, die Augen blicken ein wenig durch die Stirn und sind dabei schwere dunkle Tropfen.

Das Einschalten dieses großen Stromes macht mein Herz vor Freude hüpfen. Ich werde vor Macht üppig: Dschingis-Khan ist ein Diurnist gegen mich. Der Strom kreist von selbst; ich kann mir zusehen, ich werde sogar so frech, daß ich im Manuskript während des Lesens Bleistiftkorrekturen vornehme — was zu Beginn eine Undenkbarkeit gewesen wäre. Au reiner Machtlust nehme ich eine komische Stelle tragisch, dann wieder eine tragische komisch und bin selber erstaunt darüber, was ich da tue. Jede meiner Mienen und Handbewegungen wird durch den Scheinwerfer des Wortes riesenhaft projiziert: in die Luft schweben oder in den Boden versinken sind Kleinigkeiten, die durch zentimeterhohes Strecken oder Krümmen des Körpers zehnmal glaubhafter wirken als ein ganzer Bühnenapparat. Ich halte mein Manuskript in der Hand, und doch sieht es kein Mensch. Ich wage nicht, das Publikum anzusehen, doch wenn ich es, dem Gelesenen nach, ansehen muß, so tue ich es mit grenzenloser Dreistigkeit. Ich habe kein Privatleben mehr, ich bin von einer unerhörten Schamlosigkeit, denn es gibt für mich nur das eine: diese Buchstaben und Worte da vor mir auszudrücken.

Nach dem letzten Wort klappe ich da Manuskript mit gespielter Gleichgültigkeit zu und verbeuge mich gemessen auf den Applaus hin. Er läßt mich kalt, und doch wäre ich todunglücklich, wenn er ausbliebe. Er hat da zu sein, ich würde mir im Notfalle selbst applaudieren. Die Freunde, die mich nach der Vorlesung begleiten, frage ich gierig aus, wobei die Fragen so gestellt sind, daß sie mich loben müssen. Der geringste, auch noch so berechtigte Tadel würde mich für eine halbe Stunde zum Todfeind des Urteilenden machen. Kurz nach der Vorlesung ist jeder Tadel unberechtigt, das hat der Dummkopf zu wissen! Es tut mir leid, von dem, was diese Stunde war, scheiden zu müssen, und darum bringe ich immer wieder Einzelheiten des Gelesenen zur Sprache. Wenn jemand über etwas anderes spricht, ärgert es mich im stillen.

Das Grün der Bäume zwischen den Gaslaternen, die abendlichen Gassen und die stillen Menschen im Torweg kommen mir unendlich poetisch vor. Ungefähr um dreiviertel zehn bin ich dann wieder genau so wie alle andern Menschen.

(Aus dem Buch „Das müssen Sie lesen“, mit Bewilligung des Wilhelm-Frick-Verlages)

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