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Das Schweigen reicht tiefer

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TYPUS, NAME, GESTALT. Von Erni Jün ter. Ernst-Klett-Verlar, Stuttrart, 1963. 133 Selten, Preis 9.3 DM.

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TYPUS, NAME, GESTALT. Von Erni Jün ter. Ernst-Klett-Verlar, Stuttrart, 1963. 133 Selten, Preis 9.3 DM.

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Die Schrift stellt einen Rechenschaftsbericht dar, ähnlich und auf dem Niveau von „Über die Linie“, woran sie in etwa anknüpft. Man freut sich, nach matteren Zwischenspielen wieder der faszinierenden Gestalt Jüngers zu begegnen. „Immer kommt die Grenze, an der hinter dem Wort der Mensch erscheinen und an der er, sei es durch sein Wort oder sein Schweigen, sei es durch Handeln oder Leiden, das, was er mit dem Wort meinte, vertreten muß. Kein Text kommt dem gleich.“ Damit schließt die Schrift. Wortmacher leben eine Zeitlang auf Kredit, bis endlich ihr Defizit erscheint; mit diesem Satz ist wieder ausgesprochen, worum es geht. Der Mensch, noch mehr der Dichter, der sich auf Texte oder Wortmachereien beschränkt, verrät sich selbst. Ebenso schlimm steht es um den Philosophen, dem das Wort zum technischen Zeichen entartet. Jünger greift hier das alte Universalienproblem auf und stellt es unter moderne Instanzen: „Die-, sprachlichen Grundlagen der Philosophie“^ wie ein heutiger Buchtitel heißt, können nicht übersehen noch weniger willkürlich (zum Beispiel durch technische Methoden) bestimmt werden.

Wenn auch Jünger sehr eigenwillig vorgeht — die stärkste Kritik dürfte wohl an seinem Begriff der Gestalt anzusetzen sein, der weder der Gestaltpsychologie noch Hegels sinnlich verwirklichtem Begriff verpflichtet ist —, so kann doch nicht das grundsätzliche Anliegen übersehen werden, das auf jeden Fall ein sehr brennendes ist und von Jünger auch in rechter Weise angegangen wird. Zudem fehlt es nicht an klarer Begriffsbestimmung, so daß man sich bald orientiert hat. Ohne daß, um Jüngers eigene Worte zu gebrauchen, der Eindruck durch eine allzu minuziöse Beschreibung geschwächt oder gefährdet wird. „Das führt zu einem Skrupulantentum, das sich in historischen, morphologischen, grammatikalischen Details verliert. Es ist nicht nur in den Einzelwissenschaften zu verfolgen, sondern auch in der Theologie, und zählt zu den Erscheinungen des Schwundes, wie jedes Wuchern der Meßkunst überhaupt … Der Aufwand wird größer und der Ertrag geringer, wo der erkennende Geist über den wahrnehmenden triumphiert.“

Allerdings trägt solches Wuchern der Meßkunst greifbare Macht ein, das ist ihre Versuchung und gefährliche Ablenkung von den eigentlichen Problemen. „Hier hört der Eros des Denkens auf und die Verehrung der Ziffer beginnt“, und damit beginnt die Verdummung, die Vermassung, die Vermaterialisierung und im Politischen die Anbetung der demokratischen „Mehrheit“. Jünger antwortet mit denen, die nur glauben wollen, was sie sehen: Es ist nicht nötig, daß Sie sich als Dummkopf vorstellen und stellt der Mehrheit den „Waldgänger“ gegenüber. Die optimistischen, aktuellen, „vernünftigen“ Lösungen bleiben immer provisorisch. Es hat nicht viel Sinn, dann zwischen Materialisten und Idealisten zu unterscheiden, „sondern zwischen Köpfen, die denken können, und jenen anderen, die sich zu allen Zeiten der unbestreitbaren Mehrheit erfreuen“.

Alle Logik nützt nichts, wenn der Denkende fehlt, alles Recht nichts, wenn der Gerechte abhanden gekommen ist, alle Worte und Schriften nichts, wenn ein Mensch für sie nicht mehr einsteht. „Zu den Zeichen des Schwundes gehört, daß die Normen überhandnehmen; die Gesetze und Vorschriften werden zu Dickichten.“ In solchen Situationen reicht Schweigen tiefer als jedes Wort (wenn man das nur einmal im Raum der Kirchen verstehen würde, statt Verordnungen zu pastoraler Redseligkeit — bis in die Liturgie hinein! — zu erlassen). Jünger nimmt hier ähnliche Probleme auf wie die Philosophie Heideggers, denen man mit geläufigen Systematisierungen und Schematisierungen nicht begegnen kann. Echte Gestalten wirken immer „systembrechend“. Sie zehren aus Tiefen, denen Märchen und Mythen, die Bilder der Bibel und der Mystik entspringen, die man in einem „purgierten“ Denken nicht einfach ausklammem kann, ohne die Realität zu verfälschen, die als ein vieldeutiges Objekt in immer neuer perspektivischer Beleuchtung vor uns tritt, eine npue Formulierung für die alte Analogie, feind allen billigen Klassifizierungen. Das Kunstwerk Wird noch ' am ehesten gerecht: „Zeitlose Schönheit wird im Vergänglichen geahnt. Epochen, in denen sie ein wenig näherrückt, bringen Kunstwerke hervor wie eine Wiese Blumen; das Leben selbst nimmt den Charakter des Kunstwerkes an. Doch immer strittig bleibt, ob hier der Geist Ideen wahrnimmt oder ob die Materie ein wenig stärker zu glühen beginnt. Es bleibt ein Rätsel, ob sich im Edelstein der Stoff vergeistigt oder sublimiert.“

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