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Studienreiorm gegen „Studium generale“

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Die Heftigkeit, mit der heute die Universitätserziehung, das heißt eine wissenschaftlich fundierte Allgemeinbildung, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen freien Welt der westlichen Demokratien diskutiert wird, beweist, daß der Universität in der modernen Gesellschaft trotz des Vorrangs des Wirtschaftlichen und Politischen noch immer eine zentrale Bedeutung beigemessen wird. Die politische Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte, die soziale Problematik der hochentwickelten Industriegesellschaft haben das Interesse der besten Geister unserer Zeit auf die Notwendigkeit einer Allgemeinbildung gelenkt, deren Wesen und Praxis freilich verschieden ausgelegt wird.

Uber die Versuche, die gegenwärtig in Westdeutschland mit dem „Studium generale“ unternommen werden, wurde in der letzten Folge der „Furche“ vom 13. Oktober unter dem Titel „Wieder Universitas?“ berichtet. Die Abkunft dieses Begriffes aus der Vorstellungswelt der deutschen romantischen und idealistischen Philosophie dürfte dem Geistesgeschicht-ler kein Problem sein. Was aber Problem bleibt, ist das „Allgemeine“, worauf sich die Bildung und Erziehung beziehungsweise das Studium zu richten habe. Meint Allgemeinbildung, general education, die Ausrichtung des einzelnen auf die Interessen der Allgemeinheit: also Entwicklung des common sense im gesellschaftlichen und staatsbürgerlichen Sinne; so daß sie inhaltlich von der Soziologie bestritten werden kann, formal aber in öffentlichen Debatten eingeübt und exerziert werden muß? Oder ist das „Allgemeine“ der geforderten Bildung ein enzyklopädisches Wissen der Zeit, ist es ein möglichst weites Orientiertsein in den Universitätsfächern und darüber hinaus in den Künsten und in der schönen Literatur? Oder bedeutet es die philosophische Grundlegung allen Wissens beziehungsweise die Krönung allen Wissens in einer neuen Universitas litterarum? Alle diese Auslegungen schwingen bewußt oder unbewußt im Begriff des Studium generale mit. Auch darf das ästhetische Motiv nicht vergessen werden, das seinen reifsten Ausdruck in Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ gefunden hat. Vielleicht hat der vielgelesene Roman Hesses in Deutschland mit eine Bereitschaft für das Studium generale unter den Gebildeten geschaffen.

Wenn man aber vom poetischen Wunsch und vom literarischen Vorbild absieht, welcher Realitätswert kommt dann den oben genannten Vorstellungen von einer universitätsmäßigen Allgemeinbildung zu, das heißt wie lassen sich diese Vorstellungen praktisch ein- und wie institutionell durchführen? Denn eine Universität ist ja keine Idee, sondern eine höchst reale Institution. Und auch das Studium ist kein intellektuell hochstehender Zeitvertreib, sondern wird mit bestimmten Zielen und Zwecken verfolgt.

Letzteres wird sogar von Universitätssachverständigen häufig übersehen, die mit Kardinal Newman die Liberalität, das heißt die Zweckfreiheit der Studien glauben verteidigen zu müssen, nicht ahnend, daß selbst in den Zeiten vor der bürgerlich-demokratischen Ära und der sozialistischen Massengesellschaft, die humani-ora einem Zweckstudium dienten. Daher ist ein Studium generale als Pflichtstudium vor der eigentlichen Spezialausbildung strikt abzulehnen. Ganz abgesehen davon, daß es in der heutigen Zeit schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht angeht, dem Studenten sein Fachstudium auch nur um ein Jahr zu verlängern, wird sich kein Professorenkollegium der Welt auf den Inhalt eines solchen „vorbereitenden“ Studiums einigen können. Beispiele für die Unmöglichkeit einer Einigung haben wir in Frankreich und in Amerika, wo sich

Katholiken, Liberale und Marxisten um die Themen der Allgemeinbildung streiten. Und selbst wenn es zu einer Einigung käme, so wäre der Inhalt dieses Studium generale nicht eine Universitas, sondern höchstens eine Enzyklopädie (lies: Volkslexikon), wenn nicht überhaupt ein barbarisches Sammelsurium aus Thomas von Aquin, Karl Marx, Sigmund Freud, gemischt mit etwas Toynbee und Alfred Weber — des universalistischen Aufputzes wegen.

Faßt man aber das Studium generale mehr als formales Training auf, dann ist es mit den alten propädeutischen Fächern identisch, die im vorigen Jahrhundert den Mittelschulen, den Gymnasien und Realgymnasien zu treuen Händen überlassen wurden. Während Allgemeinbildung im enzyklopädischen Sinne stets der Initiative des einzelnen überlassen bleiben muß, und nie in Kurven zur Institution gemacht werden kann, wird es sich die Universität in Anbetracht der niveaumäßig absinkenden Mittelschulen überlegen müssen, ob sie eine auf die Höhe der heutigen Wissenschaftslogik gebrachte Propädeutik nicht doch wieder auf ihrem Boden einzuführen habe. Es versteht sich von selbst, daß dann die Mittelschule ein Jahr an die Universität wird abgeben müssen, und daß damit auch die Frage der Reifeprüfung beziehungsweise eines Bakkalaureates neu entsteht.

Man sieht also, daß das Problem des Studium generale das Problem einer prinzipiellen Studienreform ist. Dieses Problem ist nicht, wie gewisse Universitätspraktiker und -politiker meinen, administrativ zu lösen, sondern bedarf grundsätzlicher, nämlich wissenschaftstheoretischer Überlegungen.

Und hier zeigt sich die Notwendigkeit eines Studium generale in einem heute nur selten beachteten Sinne: Studium generale meint dann das „systematische Gespräch“ der Professoren aller Fakultäten im Interesse der Grundlagen- und Grenzproblematik der Einzelwissenschaften — wie dies auch in dem Artikel „Wieder Universitas“ angedeutet wurde. Erst aus diesem „Gespräch über die Fachwissenschaften und Wissenschaftsgebiete hinweg“ wird sich die neue Universitätsordnung ergeben, die mit der Zufälligkeit des heutigen Studierens — manche verstehen darunter allerdings noch immer eine längst nicht mehr existente „akademische Freiheit“ — aufräumt und den Studenten zeitgemäß in die Lage versetzt, sich neben seinem Pflicht- und Fachstudium zur Förderung seiner Allgemeinbildung auch andere Vorlesungen anhören zu können. Findet diese grundsätzliche, an den Gegenständen und am Stand der Wissenschaften orientierte Studienneuordnung nicht statt, so werden alle Experimente und „Laborversuche“ mit dem Studium generale in einer Sackgasse enden.

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