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„Rollender dies academicus“

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Das Aasse-Haus in Münster vereinigt Dozenten und Studenten zu einer Wohn- und Tafelgemeinschaft, in deren Rahmen das Studium generale in freier Form, durch Vorträge und Diskussionen, gefördert wird. Ein Sonderfall ist die Hochschule für Arbeit, Politik und Wirtschaft in Wilhelmshaven - Rüstersil, wo sämtliche (etwa 200) Studierende mit ihren Dozenten und Tutoren in einem Hochschuldorf beisammen wohnen. Den Studierenden wird die Möglichkeit einer Zusammenschau der Sozialwissenschaften gegeben, indem man Rechts- und Wirtschaftswissenschaft mit der Politik und Soziologie zu einem Lehrbereich vereinigt hat.

An den meisten Universitäten begnügt man sich damit, das Studium generale in den allgemeinen Vorlesungs- und Lehrbetrieb einzubauen, sei es in der Form eines Vorsemesters oder durch regelmäßig während des ganzen Studiums eingeschaltete Vorlesungen allgemeinbildenden Charakters. An der Technischen Hochschule Hannover hat man den „rollenden dies academicus“ eingeführt: in jeder Woche fallen an einem bestimmten Vormittag alle Fachvorlesungen aus, wodurch sich ein sechswöchiger Turnus ergibt. Der Stundenausfall ist für den einzelnen Dozenten gering, und der freigewordene Tag steht für das Studium generale mit allgemeinbildenden Vorträgen und Kolloquien zur Verfügung. Eine eigene Form hat man auch für die Abschlußprüfung gefunden: rund 20 Studenten treten öffentlich vor drei oder vier Dozenten verschiedener Fakultäten zum Streitgespräch an. Man ist der Meinung, daß es nicht nur für die gegenwärtige Situation des Studenten, sondern auch später bei seiner Bewerbung um eine Stelle nicht gleichgültig sein wird, wie er sich in diesem Kreuzfeuer bewährt hat.

Bezeichnend ist, daß sich um die Erweiterung ihrer Bildungsbasis häufiger die technischen Hochschulen bemühen, während es die Universitäten nur selten für notwendig halten, ihren Gesichtskreis nach der Richtung der Technik hin zu erweitern. Viel beachtet wird in diesem Zusammenhang das Studium generale der Technischen Universität (TU) Berlin, welche, da man eine Kürzung des Fachstudiums nicht für möglich hält, zwei obligatorische humanistische Grundsemester vorschaltet. In diesen werden zunächst Einführungen in die „arteigenen“' Fächer (Mathematik, Physik, Chemie), dann im zweiten Semester in die „artfremden“ (Deutsche Literatur, eine lebende Fremdsprache, Philosophie, Logik und Erkenntnislehre) geboten. Hinzu kommen Wirtschaftswissenschaft und Nationalökonomie, Rechtskunde, Kunstgeschichte und ein weiteres Fach nach Wahl.

Ein freiwilliges Studium generale gibt es an der Universität Freiburg, wo je 15 bis 30 Studierende an 40 Arbeitsgemeinschaften teilnehmen, denen fünf hauptamtliche Tutoren zur Verfügung stehen. Daneben gibt es ein „Col-loquium politicum“ mit einem Parteienforum, das nur von Studenten getragen wird und unter dem Protektorat des World University Service steht. — Eine Reihe anderer Universitäten, wie etwa

Mainz, München, Aachen und Würzburg, begnügt sich damit, den Studenten allgemeinbildende Vorlesungen zu empfehlen.

Natürlich gibt es auch Einwände gegen das Studium generale, vor allem gegen seine Einführung vor Beginn des eigentlichen Studiums. Hier wird zunächst ein psychologischer Einwand erhoben: daß nämlich nach Absolvierung des Pflichtunterrichts in der Mittelschule der junge Mensch, dem die Hochschulreife bestätigt wurde, den dringenden Wunsch hegt, sich nun ausschließlich dem erwählten Spezialstudium widmen zu können und wenig Neigung verspürt, sich mit allgemeinen Problemen zu beschäftigen, die von seinem Fach weitab zu liegen scheinen. Erst — so argumentiert man — im Laufe, ja vielleicht erst nach Abschluß seines SpezialStudiums wird der Studierende das Bedürfnis haben, Wissenslücken auszufüllen und sich über den Stand der Nachbardisziplinen zu orientieren. Erst dann, wenn er sich gründliche Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet angeeignet hat, könne er die Grundidee des Studium generale begreifen und würdigen: die Koordination von Spezialwissen und allgemeiner Persönlichkeitsbildung, den Zusammenhang zwischen Denken und Schaffen.

Häufig begegnet man auch der Meinung, daß die Hochschulreform zuerst eine Reform der Hochschullehrer bedinge und daß ein Studium generale vor allem den Professoren not täte. Diese Erkenntnis hat an der Universität Kiel zu regelmäßigen Begegnungen und Aussprachen der Dozenten im Rahmen eines .Forum Academicum“ geführt. So stehen zum Beispiel an der Universität Tübingen der Rektor der Universität und seine Kollegen in freien Kolloquien einmal wöchentlich den Studenten zur Verfügung, so gibt es in der Aula der Universität München, ebenfalls einmal wöchentlich, eine .Stunde des Rektors“, zur Aussprache über allgemeine wissenschaftliche Probleme unserer Zeit. Eine Delegation amerikanischer Professoren, die Deutschland besuchte und sich besonders für das Studium generale interessierte, hat in einem Bericht an die Erziehungsabteilung des HICOG ihre Eindrücke zusammengefaßt. Neben positiven Beobachtungen wird darin auch erwähnt, daß die Traditionsliebe und der „einschränkende Standpunkt“ mancher Professoren den Bestrebungen in Richtung auf ein Studium generale Im Wege stünden. Sie hätten auch „Beweise einer snobistischen Haltung der Professoren gegenüber den Studenten, einer Un-willigkeit, Neues zu versuchen, sowie einer Verschlossenheit neuen Ideen gegenüber und einer Abneigung gegen Kritik, besonders wenn sie von Studenten kommt“, empfangen.

Im allgemeinen aber wird das Studium generale von der öffentlichen Meinung positiv beurteilt, denn die Sorge um das Bildungsniveau der Hochschüler ist dringend, der Vorsprung anderer Länder bedeutend. Daher wäre es wünschenswert, daß man sich der Einsicht nicht verschließen möge, daß — wie es in einer angesehenen österreichischen Monatsschrift vor kurzem ebenso höflich wie entschieden formuliert wurde — Österreich und Deutschland den Anschluß an die härtere geistige Währung der westlichen und nordwestlichen Nachbarschaft suchen müßten.

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