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Universitätsstadt aus der Retorte

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Es ist in allen deutschen Hörsälen das gleiche Bild: Kopf an Kopf, dicht gedrängt sitzen die Studenten — 275.000 junge Menschen, von denen freilich nach der Statistik der letzten Jahre nicht einmal zwei Drittel ihr Studium abschließen werden. Es sind immer noch zuwenig, viel zuwenig! Deutschland braucht Techniker, Lehrer, Ärzte, Volkswirtschaftler, Juristen, Theologen, Wissenschaftler, Forscher. Und zuwenig sind natürlich auch die Universitäten und Technischen Hochschulen, die Theologischen Hochschulen und die Akademien. Deutschland hat nach dem Krieg vier Hochschulen jenseits der Oder-Neiße-Linie und zehn Hochschulen in Mitteldeutschland verloren. Dafür wurden bisher vier Universitäten neu errichtet: die Freie Universität Berlin, die Universitäten Mainz und Saarbrücken, und jetzt eben nimmt die Ruhruniversität in Bochum zunächst im Anfangsstadium mit den geisteswissenschaftlichen Disziplinen ihren Vorlesungsbetrieb auf.

Universitätsstadt für 25.000

Bochum ist die erste von zunächst drei geplanten Universitäten. Es führte in dem Rekordtempo von drei Jahren die erste Etappe seines Bauziels durch. Bremen und Konstanz sind noch nicht so weit. Später soll auch in Regensburg eine Universität erstehen und in Dortmund eine Technische Hochschule.

Die Ruhruniversität hatte den Vorteil, daß das reiche Land Nordrhein-Westfalen auf den 50/igen Bundeszuschuß verzichtete und, wenigstens zunächst, die Finanzierung übernahm. Es soll nicht eine Universität, sondern eine Universitätsstadt werden: bis zum Jahre 1973 sollen nach und nach — um den Betrag von zwei Milliarden DM — 540 ha Gelände verbaut werden. Die Studenten werden zum Teil nach dem Muster der englischen Colleges gemeinsam mit Dozenten in „Kollegienhäusern“ wohnen. Es sind Wohnheime für 3000 Studenten vorgesehen. Die Universität selbst ist für 10.000 Studenten gedacht. Im ganzen sollen auf dem Gelände in den nächsten Jahren 25.000 Menschen angesiedelt werden, einschließlich der Universitätsangehörigen und Professoren.

Kooperation der Wissenschaften

Das eigentliche Experiment in Bochum ist aber nicht die räumliche Gestaltung, sondern das zugrundeliegende Konzept des wissenschaftlichen Betriebes. Bochum soll eine „Universität“ in ganz eigenartigem Sinn werden. Sie wird nach vollem Ausbau nicht in die traditionellen Fakultäten gegliedert sein, sondern “in 18 autonome Abteilungen, in denen eine Querverbindung durch alle Fakultäten hindurch besteht. Daneben werden über 100 Institute und mehr als 20 Kliniken stehen. Es werden Geisteswissenschaften, Jus, Theologie, Medizin, Ingenieurwissenschaften unterrichtet werden — also auch die Technik ist in die Universität einbezogen, wie Karl Jaspers schon 1946 vorschlug. Doch sollen die einzelnen Disziplinen nicht abgesondert für sich sein, sondern miteinander in Verbindung stehen. Der Student inskribiert an der Gesamtuniversität und kann an allen Abteilungen Vorlesungen hören.

„Universitas“ im eigentlichen Sinn

So wird z. B. die Abteilung Altertumswissenschaft klassische Philologie, Archäologie, Alte Geschichte und Antike Rechtsgeschichte vereinen; das Institut für Arbeitswissenschaft Arbeitsrecht, Betriebssoziologie, Arbeitsphysiologie, Arbeitspsychologie, Arbeitstechnologie, Arbeitsmedizin; die Pädagogik wird in die Bereiche der Medizin, der Soziologie und der Rechtswissenschaft übergreifen, doch wird ihr z. B. auch eine Arbeitsgemeinschaft „Publizistik und Kommunikation“ angegliedert; das Institut für Geschichte umfaßt auch Geschichte der Naturwissenschaften, der Medizin, der Technik, Rechtsund Wirtschaftsgeschichte, Sozial-und Geistesgeschichte. Jedes Fach erfordert also Professoren mehrerer „Fakultäten“. Der Student der Mathematik wird sich bei einer Vorlesung über Kybernetik mit Technikern und Medizinern treffen. Die katholischen und evangelischen Theologen werden nebeneinander in einer Vorlesung über Vergleichende Religionswissenschaft sitzen. So stellt sich für Bochum die „universitas“ in einer Kooperation der Wissenschaften dar. Die Universität Bremen soll nach dem Konzept von Hans Werner Rothe, dem Mitarbeiter des Göttinger Universitätskurators, errichtet werden. Auch hier soll ein „Campus“ mit Instituten, Hörsälen, Bibliothek, Studentenwohnungen angelegt werden. In den Empfehlungen des Beratungsausschusses heißt es: „Der Gedanke, daß die Universität eine universitas, eine Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden ist, führt auch zu der Absicht, Wohnhäuser für Professoren im Umkreis des Campus zu errichten.“

Die geplante Universität Konstanz dagegen, die am ehesten den Vorstellungen Schelskys von der „theoretischen Universität“ entspricht, möchte sich bewußt auf drei Fakultäten und 3000 Hörer beschränken. Sie will neben dem Studium besonders der Forschung ihr Augenmerk zuwenden und hofft auf Grund ihrer geographischen Lage eine Elite von Studierenden Deutschlands, Österreichs und der Schweiz anzuziehen.

In der Denkschrift der Landesregierung „über die Errichtung von wissenschaftlichen Hochschulen in Baden-Württemberg“ heißt es: „Jene pädagogische Wirkung, die von der Teilnahme an wissenschaftlicher Arbeit, also von der Vereinigung von Forschung und Lehre als dem Prinzip der Universität erhofft wird — sie müßte der wesentliche Richtpunkt einer universitären Neugründung unseres Landes sein.“

Humboldt und wir

Drei Universitäten — drei Auffassungen von „universitas“! Darin äußert sich die Problematik der Hochschule in unserem Jahrhundert. Die von Theologie und Philosophie geprägte universitas litterarum des Mittelalters ist dahin; Humboldts Idee der Universität, „alles aus einem ursprünglichen Prinzip abzuleiten und einem Ideal zuzubilden“, die er in der Berliner Universität zu verwirklichen trachtete, heute wieder zu realisieren scheint aus-\ sichtslos. Die Wissenschaften fallen durch ihre extreme Spezialisierung auseinander. In Konstanz werden drei Fakultäten (Philosophie, Sozial-

Wissenschaften, Naturwissenschaften) nebeneinander stehen, die Technik ist von vornherein ausgeschlossen. Bremen will die Einheit in der Verbindung von Wissenschaft und Persönlichkeitsbildung suchen, indem es Lehrer und deutsche sowie ausländische Studenten in einer Lebensgemeinschaft zusammenführt und auch die musische Erziehung (Leibeserziehung, Musikerziehung, Kunst-und Werkerziehung) in die Bildung einbezieht. Bochum sucht in einem großen Experiment — in dem Theologie und Philosophie nicht weniger und nicht mehr Rechte eingeräumt werden als den anderen Disziplinen

— Naturwissenschaften. Geisteswissenschaften und Technik in gegenseitiger Durchdringung zu verbinden.

Ob dieses Experiment gelingt, wird gewiß zum Teil von den akademischen Lehrern abhängen, die sich dieser Aufgabe verschreiben; aber auch davon, ob eine solche paritätische Einheil der Wissenschaften überhaupt möglich ist. Die Autonomie der Hochschule, die Humboldt mit dem Satz forderte: „Der Staat ist immer hinderlich, wenn er sich hineinmischt; die Sache würde ohne ihn unendlich besser gehen“, bedeutet wohl Freiheit von Forschung und Lehre; sie kann aber nicht bedeuten, daß die Idee der Universität mit Staat und Gesellschaft nichts zu tun hat. Auch die Hochschulen können im luftleeren Raum nicht existieren. Heute stellt sich — nicht nur in Deutschland — die Aufgabe, aus dem demokratischen Staatswesen, der pluralistischen Gesellschaft und der gesteigerten Bedeutung von Naturwissenschaften und Technik ein neues Bild der Universität zu entwickeln, die mit Planung und Organisation allein nicht zu lösen ist.

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