6570899-1950_19_13.jpg
Digital In Arbeit

Die „Freie Universität Berlin“

Werbung
Werbung
Werbung

Am 5. Dezember 1948 wurde in Westberlin als Gegengewicht gegen die Gewaltherrschaft über Studenten und Lehrer der alten Berliner Universität die „Freie Universität Berlin“ eröffnet. Westdeutsche Beobachter nannten den Aufhau der neuen Universität inmitten einer belagerten Stadt, ohne zureichende finanzielle Sicherung, ein „wissenschaftliches Wagnis“, Heute sieht die Welt: das kühne Wagnis ist geglückt- Ein Jahr nach der Eröffnung der Vorlesungen wurde in einer amtlichen amerikanischen Verlautbarung betont, daß die Freie Universität heute zu den besten Hochschulen Deutschlands gehört.

Die Gründung der Freien Universität Berlin war nicht ein Werk der Professoren, sondern ausschließlich der Studentenschaft. Aber ohne die schnelle und großzügige finanzielle Hilfe des amerikanischen Oberkommandierenden für Deutschland, General CJay, und des Berliner Oberbürgermeisters Reuter hätte sich die neue Hochschule niemals zu einer lehensfähigen Bildungsstätte entwickeln können. Die amerikanische Militärregierung überließ den Studenten die Gebäude des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts in Dahlem. In wochenlanger gemeinsamer Arbeit richteten sich die Studenten ihre eigene Universität ein. Seminare und Institute entstanden neu, Bibliotheken wurden zusammengestellt, technische Apparate und Instrumente instand gesetzt. Unüberwindlich schienen die Schwierigkeiten: es fehlten Geld, Räume, Bücher, Lehrmittel, Professoren. Und doch wurde aus dem Nichts eine Hochschule geschaffen, -die schon Ende November 1948 mit 2140 Hörern, die meist von der Linden-Universität herübergewechselt waren, das erste Semester beginnen konnte.

Der Nestor der deutschen Historiker, Prof. Friedrich Meinecke, wurde der erste Rektor der Freien Universität. Die Professoren kamen meist von den Universitäten der Ostzone. Gastprofessoren aus Westdeutschland und den US.A ergänzten die Lehrerschaft. Die Zahl der Studenten stieg im Sommersemester 1949 auf 3850 und dem laufenden Semester weiter auf über 5000 an. Nur der vierte Teil der Bewerber kann angenommen werden. Die Hörsäle reichen nur für 2500 Studenten. Größere Vorlesungen müssen in Kinos oder Museen abgehalten werden.

Durch viele Spenden von Altakademikern und aus den USA konnte eine Bibliothek von etwa 150.000 Bänden eingerichtet werden. Die Bestände der Staatsbibliothek im russischen Sektor sind für die Freie Universität unzugänglich.

Die Freie Universität ist durch die Initiative der Studentenschaft entstanden und besitzt deshalb eine in Deutschland einmalige studentische Selbstverwaltung. Während an anderen Universitäten die Studentenschaft aus Mangel an Rechten und Pflichten zum passiven Zuhören, nicht selten aur Flucht in die Negation gedrängt wird, geht die Freie Universität neue Wege in der Mitarbeit und dem Mitbestimmungsrecht der Studentenschaft, die vorbildlich sind für eine zukünftige allgemeine deutsche Hochschulreform. Die Grundlage hiefür bildet die neu erarbeitete Satzung der Studentenschaft. Nach ihr wird für je 100 immatrikulierte Studenten ein Abgeordneter in den Konvent, die offizielle Vertretung der Studentenschaft, gewählt, Dem Konvent, der gegenwärtig aus 50 Abgeordneten besteht, ist ein, allgemeiner Studentenausschuß verantwortlich, der die Referenten für die einzelnen Sachgebiete umfaßt und vom Konvent gewählt wird. Zwei Studentenvertreter sitzen neben den Dekanen stimmberechtigt im Senat, je einer im Fakultätsrat und einer im Kuratorium der Universität, um dort die Rechte und Wünsche der Studentenschaft zu vertreten.

Die Studentenschaft stammt zu 47 Prozent aus Westberlin, zu 45 Prozent aus der Ostzone, zu 5 Prozent aus Westdeutschland und zu 3 Prozent aus dem Ausland. Fast alle Studenten leben finanziell in schwerer Not und müssen sich neben dem Studium den Lebensunterhalt verdienen. Als Hilfsstelle zur Vermittlung von Arbeitsstunden an Studenten haben sie die Organisation der „Heinzelmännchen“ eingerichtet. Täglich werden hier von 9 bis 17 Uhr Aufträge für Gelegenheitsarbeiten jeder Art ausgegeben, wie Garten- und Lagerarbeiten, Transporte, Botengänge, Teppichklopfen, Kinderhüten, Haushaltshilfe, Klavierspielen bei Unterhaltungen usw.

Westberlin ist heute der wichtigste Vorposten im Kampf für die Menschenrechte und für viele politisch Verfolgte eine rettende Insel. So finden auch an der Freien Universität politische Flüchtlinge bevorzugt Aufnahme. Leider mischen sich immer wieder gegnerische Agenten unter die echten Flüchtlinge. Sie sind oft schwer zu entlarven, weil sie meist ihren eigenen Verhaftungsbefehl bei sich tragen, um so sichere Aufnahme im Westen zu finden.

Der gemeinsame harte Kampf hat die Grenzen zwischen den Ilochschulgruppen der westlichen Parteien waitgehend aufgehoben. Nirgendwo in Deutschland ist die Atmosphäre parteipolitisch so nüchtern, vorurteilslos und herzlich wie unter den Berliner Studenten. Im Gegensatz zum Beispiel zur Wahlordnung der österreichischen Hochschülerschaft wirii in Berlin niemals nach Parteien gewählt. Der Allgemeine Studentenausschuß besteht ganz, der Konvent überwiegend aus Parteilosen.

Aus bestimmten westdeutschen Kreisen, die sich besonders um die Universität Göttingen sammeln, wird der Freien Universität vorgeworfen, sie sei eine .Kampfuniversität“, welche die Möglichkeit einer Verständigung mit dem Kommunismus und damit die spätere Wiedervereinigung Ost- und Westdeutschlands zerstöre. Es ist erschütternd, wie unter westdeutschen Studentenvertretern eine derartige politische Harmlosigkeit um sich greifen kann. Mit einem solchen Höchstmaß an ,,objektiver“ Haltung verrät man die Leiden und Opfer Tausender ostdeutscher antikommunistischer Studenten und treibt ein gefährliches Spiel mit der eigenen Freiheit. An der gleichen Universität Leipzig, deren kommunistischer Vertreter beispielsweise in Frankfurt sprechen durfte, wurde im

Oktober 1948 Wolfgang Natonek, der freigewählte Studentenratsvorsitzende von Leipzig, verhaftet und ist seitdem verschwunden. Am 8. Juli 1949 wurden in Leipzig fünf Studenten, darunter drei Frauen, wegen des angeblichen Versuchs, General Tschujkow zu ermorden, hingerichtet. Am 18. Oktober 1948 wurden die liberalen Studentenvertreter der Universität Rostock, A. Esch und F. Wiese, von der Straße weg verhaftet. Mit der weiteren Aufzählung derartiger Verhaftungen und Terrorakte ließe sich eine ganze Dokumentensammlung füllen.

Die Freie Studentenschaft Berlin ist in Not und Kampf reif geworden. Der Wunsch der freiheitsliebenden Welt für sie kann nur einer sein: Mögen die jüngeren Semester, die den Kampf um die Universität noch nicht mit durchgefochten haben, den Geist der älteren Studentenschaft weitertragen und nicht über der Sorge um die Berufsausbildung die große Sendung vergessen, Deutschlands wichtigstes Bollwerk gegen die Knechtung des Geistes zu sein, solange, bis Ost und West sich wieder vereinigen können unter den Werten, die der Wahlspruch der Freien Universität Berlin nennt: Veritas, Justitia, Libertas!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung